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Googlen statt denken!

Ein Schweizer Forscherteam hat ermittelt, welche modernen Denker die einflussreichsten sind. Das Ergebnis stimmt uns, ähm, postoptimistisch.

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Jemand hat versucht, den Einfluss von lebenden "Denkern" zu messen (hier noch ein zweiter Digest). Ein schweizerisches Forscherteam ermittelte, welche "Denker" besonders häufig von anderen "Denkern" in "einflussreichen" Print- und Webmedien zitiert werden. Das Ergebnis ähnelt einer sorgfältig aufbereiteten Google-Statistik für Theoretiker (wobei die Frage, "Theoretiker wovon?", unbeantwortet bleibt), was deutlich macht, worum es in wirklich geht: Um Marktanteile und möglichst aktuelle Kurswerte. Nicht umsonst steht im abstract der Arbeit was von "market for ideas".

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Dass über den Einfluss einer Theorie wenig gesagt ist, wenn wir bloß erfahren, wie oft und in wie "guten" Kontexten der Theoretiker beim Namen genannt wird, ist klar. Der statistische Fleischwolf ist eine blinde Maschine; und es ist nicht seine Schuld, dass seit Beginn der Moderne alles, was bei drei nicht auf den Bäumen ist, durch ihn hindurchgejagt wird—es könnte ja ein unerkannter Zusammenhang sichtbar werden, der der Effizienzsteigerung dient.

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Also: Nicht der theoretische Gehalt des Theoretikerrankings ist die Nachricht hier, und auch nicht, dass ein solches überhaupt veranstaltet wurde. Es handelt sich im Wesentlichen um eine kompliziert aufgebaute Tautologie, um die Abbildung einer Echokammer (Medien bedienen sich jener Textsorten, die ihnen nicht unfreundlich gegenüberstehen, und die zitieren wiederum Texte, die usw. usf.).

Nicht all dieses ist wie gesagt die Nachricht, sondern, wer da ausschließlich unter den Top Ten gelandet ist: Nämlich männliche Angelsachsen und Deutsche, soweit das Auge reicht!

Wer aber, fragt sich nun der Fan des Profidenksports, ist der erste dieser Deutschen (und übrigens Gesamt-Weltrang-Zweite)?—Niemand Geringerer als Thilo Sarrazin, der alte Sarrazenenfresser und König von Mallorca der gelungenen Selbstvermarktung! Der Kerl, der seit 2010 das Kunststück fertigbringt, aus fast jeder Zeitung und fast jedem Fernsehkanal heraus seine chauvinistischen Thesen zu verkünden und dabei den Nimbus der verfolgten Unschuld aufrechtzuerhalten, der der Mund verboten werden soll …

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"Man wird ja wohl noch sagen dürfen, dass der Türke als solcher für nix zu gebrauchen ist", greinen er und seine Jünger auf allen Kanälen, und jetzt haben sie es schriftlich: Ja, man darf es noch sagen. Man kommt in Top-Ten-"Denker"-Listen damit. Weil, siehe oben, Echokammer. "Er spricht ja nur aus, was alle denken." (In related news: Frank Stronachs Wählerpotenzial auf 15% geschätzt. +++ Schockierend: FPÖ-Politiker in rechtsradikaler Facebook-Gruppe gesichtet! +++ Unglaublich: Doping im Radrennsport!)

Wer ist dann noch so drauf auf der Liste? – Platz 1 geht an den Erfinder des Begriffs "creative class", Richard Florida. Platz 5 geht an Steven Pinker, der im Wesentlichen sagt, dass es uns noch nie besser gegangen ist als heute. Mit David Graeber ist zumindest eine Person vertreten, der man das ehrliche Suchen nach Alternativen zum herrschenden Scheißdreck glaubt—obwohl er noch immer ein gläubiger Jünger der Kapitalismus-oder-Untergang-Denkschule ist.

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Jaron Lanier, der nicht mal unter den Top 41 zu finden ist, es aber prinzipiell sein könnte, spricht in seinem Buch "Who owns the Future?" unter anderem darüber, wie wir uns absichtlich blöd stellen, um das Funktionieren der selbstlernenden Systeme, die uns umgeben, erst zu ermöglichen. Scheint so, als hätte das Phänomen inzwischen selbst den Denkbetrieb erreicht:

Dank statistischer Modelle sicher sein, dass der Nachrichtenwert eines Rülpsers von Sarrazin höher ist als der jüngst erschienene Band von Habermas, betitelt "Im Sog der Technokratie". Einige eifrige Vermarkter ihrer eigenen Denk-Aktien verwechseln dann vorsätzlich Nachrichtenwert mit Einfluss, und fertig ist die Denkerstatistik …

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Knapp einen Platz unter den Top Ten verfehlt hat übrigens Ray Kurzweil (Rang 11), der Kerl, dem wir die Quasi-Religion um das Entstehen der Singularität verdanken - nebst seiner ernstgemeinten Warnung vor einem finalen Krieg der Menschen gegen die Maschinen noch zu unseren Lebzeiten. Der Mann darf angesichts dieses Rankings beruhigter schlafen gehen. Wenn die Algorithmen noch keine besseren Abbilder komplexer Sachverhalte produzieren können als das beschriebene Ergebnis—Skynet wird im Zweifelsfall von einem einzelnen französischen Postmodernisten auf dem Schlachtfeld auszumanövrieren sein.

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