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Thilo im Fadenkreuz der Tugendterroristen

Wir waren auf der Premiere von Thilo Sarrazins neuem Buch und haben viel gelernt: warum die Evolution gut ist aber die Frauenquote schlecht, und warum Claudia Roth die Weltverschwörung gegen Thilo anführt.

Am Montag ist das neueste Sarrazin-Buch herausgekommen. Es heißt Der neue Tugendterror: Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland, und es handelt über weiten Strecken davon, wie schlecht Sarrazin sich von den Medien behandelt fühlt, seit er mit Deutschland schafft sich ab mal ein bisschen auf die Kacke gehauen hat.

Sarrazin behauptet aber, es ginge gar nicht darum, dass er beleidigt ist. Stattdessen habe er an seinem eigenen Fall eine Problematik beobachten können, „die viel weiter ging und auch grundsätzlicher war“: nämlich um „Formen der Formierung und Kontrolle von Meinungen“, eine „gesellschaftliche Mechanik“, die zur „Verengung der Meinungsbildung“ und schlussendlich zum katastrophalen Ende der Gesellschaft führt. Man kann ihm also kaum vorwerfen, dass ihm der Blick für die eigene Relevanz fehlt: Wenn Sarrazin kritisiert wird, dann kann das eigentlich nur bedeuten, dass sich Deutschland auf den Abgrund zubewegt.

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Am Dienstagabend hatten die Tugendterroristen wohl nicht aufgepasst, denn da durfte Sarrazin immerhin einen Vortrag im Nikolaisaal in Potsdam halten. Der Preis für ein Ticket lag bei 16 Euro, denn Thilos Meinung ist zwar frei, aber nie gratis. Wir wollten unbedingt sehen, was für Leute das bezahlen, und haben uns auf den Weg dorthin gemacht. In der S-Bahn bemerkte ein älterer Punk das Buch und erklärte uns gutmütig, dass man ihm seine Wut nicht übelnehmen solle. Immerhin sei sein Sohn kurz vor der Veröffentlichung des ersten Buchs an einer Heroin-Überdosis gestorben.

Als wir ankamen, hatten sich bereits um die hundert Leute zu einer kleinen Gegendemo mit einem großen „Deutschland, schaff dich ab!“-Schild vor dem Nikolaisaal aufgebaut. Von einem ver.di-Laster spielte Musik, hin und wieder gab es auch Redebeiträge. Ich unterhielt mich mit ein paar der Demonstranten, um herauszufinden, warum sie es nötig fanden, bei der Kälte gegen eine Buchvorstellung zu demonstrieren.

„Na ja, Sarrazin hat sich in letzter Zeit ja als faschistisches U-Boot in der SPD herausgestellt“, erklärte mir Marvin, ein Philosophiestudent aus Potsdam. „Sein letztes Buch war in meinen Augen eine Erklärung zum sozialen Krieg—eine Ansage an die Unterklassen in diesem Land, die Arschbacken zusammenzukneifen, und wer nicht in die Elite passt, hat da nichts suchen.“

Marvin hatte das neue Buch noch nicht gelesen, aber ein anderer Demonstrant namens Robert schon, und der fand es scheiße. „Ich finde, jemand, der einen Auflage von 1,5 Millionen erreicht und vorab in der BILD-Zeitung abgedruckt wird, muss sich nicht unbedingt beschweren, dass er unterdrückt wird und seine Meinung nicht sagen darf“, schimpfte er.

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Dann wurde es Zeit, sich in die Schlange der Ticketinhaber einzureihen. Um mich herum standen hauptsächlich ältere Leute, die sich über den „Krach“ der Linken beschwerten. Nach einer sehr gründlichen Taschenkontrolle stand ich dann endlich in der Lobby, wo sich die circa 400 Zuhörer und eine Handvoll Journalisten mit Bier auf die bevorstehende Erleuchtung vorbereiteten.

In der Nähe der Bar unterhielt ich mich mit einem 48-jährigen Handwerker aus Brandenburg und seiner Tochter über Sarrazin und das Problem mit der freien Meinung in Deutschland. Findet er es gerechtfertigt, wenn man Sarrazin vorwirft, er bereite faschistischem Denken den Boden? „Kommt immer darauf an, wie man faschistisches Gedankengut definiert“, erklärte er mir. „Ob man eine Meinungsäußerung über eine gesellschaftliche Entwicklung immer als faschistisch abstempeln muss, bloß weil wir deutsch sind. Weil, es gibt ja ganz andere Länder, wo viel deutscher gedacht wird, sag ich jetzt mal. Oder faschistischer gedacht wird. Da sind wir noch gar nicht so weit vorn.“

Die Spannung steigt…

Da kann Sarrazin uns ja vielleicht helfen, ein bisschen aufzuholen. Mit der Schweiz zum Beispiel, die in einer Reihe von Volksabstimmungen dafür gesorgt hat, dass sie jetzt europaweit als Vorreiter im Kampf gegen „Überfremdung“ gelten darf. „Die machen da einfach Minarettverbot, zack zack zack“, freute sich Herr J. „Und dann sagt hier einer was, und da stellt sich die Frage, steht da ’ne Lobby hinter? Die immer darauf achtet, dass er auch das Maul hält.“

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Mit seiner Charakterisierung der Presse als einer Tugendterror-Lobby scheint Sarrazin einen Nerv getroffen zu haben. Auch als ich mit einer Gruppe von drei älteren Männern sprach, war man sich einig, dass es eine „Mediendiktatur“ gäbe. „So wie er runtergeputzt wird, ist schon interessant“, erklärte mir einer von ihnen. „Da wollte ich ihn mal selber hören und mich nicht von den Medien beeindrucken lassen.“

Während ich mir gerade von Vater und Tochter J. erklären ließ, dass es jetzt langsam an der Zeit sei, die ganzen Schuldgefühle für die Shoa hinter uns zu lassen („das ist jetzt 70 Jahre her, der Scheiß!“), damit wir endlich mal wieder „deutsch sein dürfen, normal stolz sein dürfen“, klingelte es, und wir mussten reingehen.

Kurz nachdem sich das Publikum in dem leider sehr hässlichen Saal niedergelassen hatte, ging es auch schon los. Pünktlichkeit ist ja auch eine der deutschen Tugenden, die Sarrazin sehr schätzt. Ein Herr vom Verlag begrüßte uns zu Sarrazins „drittem Streich“ (hinter mir wurde getuschelt „Drittes Reich? Wie?“), dann bekam der Meister auch schon selbst das Wort.

Sarrazin erklärte zunächst noch einmal, wie „nachdenklich“ ihn die Reaktionen auf sein erstes Buch gemacht hätten, weshalb er nun dieses hier geschrieben habe. Dann entlarvte er gleich scharfsinnig die Mechanismen der Medien, indem er auf fünf negative Vorab-Rezensionen hinwies, die entstanden waren, ohne dass ihre Autoren das Buch je hätten lesen können.

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Die ältere Dame neben mir nickte in heftiger Zustimmung und sollte die nächste Stunde damit auch nicht aufhören, während Sarrazin wie ein pedantischer Grundschuldirektor über die Evolution (der wir Finken und Smartphones verdanken), Frauenquoten (gefährlich für die deutsche Infrastruktur, wenn z.B. weibliche Ingenieure bevorzugt würden) und immer wieder den vorherrschenden „Gleichheitswahn“ schwadronierte. Weil ich für VICE schreibe, muss ich erwähnen, dass ich manchmal von der Lichtinstallation hinter ihm abgelenkt wurde, die wie ein riesiger rosa Penis aussah.

Das Eigenartige an Sarrazins Verständnis der Ideologie dieses „Gleichheitsimperiums in Medien und Politik“ ist, dass sie im Grunde einfach nur linksliberale Positionen zusammenfasst. „Es ist immer dieselbe Denke“, analysierte er scharfsinnig. „Irgendwas scheint das zu verbinden, und es steckt ein relativ geschlossenes Weltbild ab. Ich habe mir überlegt, wer passt zu diesem Weltbild, da fiel mir Claudia Roth ein. Jedes dieser Axiome wirkt aus ihrem Munde absolut glaubwürdig.“

Die Entdeckung, dass Claudia Roth linksliberale Thesen vertritt, beweist noch keine landesweite Verschwörung. Aber vielleicht ist das ein Selbstschutzreflex: Thilo Sarrazin hat einfach irgendwann gemerkt, dass sein Weltbild eigentlich eher zur CSU als zur SPD passt. Anstatt aber einfach die Partei wechseln, hat er sich lieber ein konspiratives Imperium ausgedacht—weil er sich nicht eingestehen will, dass er auf seine alten Tage ein Rechter geworden ist, müssen es die Linken sein, die durch Orwell’sche Gleichschaltung sämtlich zu Fußsoldaten einer gefährlichen Meinungsdiktatur mutiert sind.

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Im folgenden Gespräch mit dem Moderator vom Cicero kam das noch deutlicher heraus. Nachdem er den „Gleichheitswahn“ weiter seziert hatte, gab er zu: „Das, was ich jetzt gesagt habe, ist natürlich extrem einseitig, extrem ungerecht“, erklärte er. „Aber in der Einseitigkeit und Ungerechtigkeit wirkt auch eine gewisse Verdichtung, Sie werden erkennen, dass Sie mit dieser Brille viele Dinge, die Sie täglich in der Zeitung lesen, erklären können.“ Das ist die Tragik des Thilo Sarrazin: dass er seine eigene Verengung dunkel spürt, sie aber nicht akzeptieren kann. Deshalb ist er wohl dazu verdammt, der Welt um ihn herum genau diese Verengung und Beschränkung bis in alle Ewigkeit in immer gekränkteren Büchern vorzuwerfen.

Rocco versucht, ein Autogramm auf sein „Halt's Maul“-Poster zu bekommen. Hat nicht geklappt.

Nach der Rede konnte man sich noch ein Autogramm holen. Ein Junge und ein Mädchen aus dem Publikum (fast die einzigen Jugendlichen) nutzten die Gelegenheit, um ihm eines der Gegenprotestplakate unter die Nase zu halten, auf dem unter einer Karikatur von ihm einfach nur „Halt’s Maul!“ stand. Das wollte er aber nicht signieren, und die beiden wurden entfernt. Danach ging alles ruhig zu, die Bewunderer ließen sich ihre Bücher signieren und zogen in Grüppchen ab.

Draußen traf ich die beiden „Störer“ wieder, die mir erklärten, dass sie eigentlich auch gerne mit Sarrazin diskutiert hätten. Der Moderator hatte aber nur drei Fragen zugelassen, so dass nicht viel Austausch zustande kam. „Was er erzählt, ist schon bedenklich“, erklärte mir Rocco. „Wie er über Frauen redet, oder wenn er sagt, türkische Jugendliche müssten sich in der Schule einfach mehr anstrengen.“ Stefanie war der gleichen Meinung. „Manchmal können Menschen doch wirklich nichts für ihre Lage, die haben es einfach viel schwerer“, ärgerte sie sich. „Aber darüber denkt der nicht nach, dazu ist er nicht in der Lage.“

Vielleicht hat sie Recht. Sarrazin tut laut eigener Aussage seit mindestens vier Jahren und drei Büchern nichts anderes, als nachzudenken. Bis jetzt scheint aber abgesehen von Wohlfühlparolen für verunsicherte Senioren und Thesen über die gesamtwirtschaftliche Nutzlosigkeit der islamischen Kultur (und ja, das hast du gesagt, Thilo) nicht viel dabei herumzukommen. Aber vielleicht beim nächsten Buch!