Ein Mann mit blonden Haaren und leicht aufgeknöpften Hemd steht vor einer Menschengruppe und schaut selbstbewusst in die Kamera, die Serie Supersex soll das Leben von Rocco Siffredi zeigen.
Foto: Lucia Iuorio / 2023 Netflix, Inc.
Popkultur

Netflix hat mit 'Supersex' seinen ersten Porno gedreht

Bei der Berlinale zeigte der Streaming-Dienst eine Serie über das Leben von Rocco Siffredi. Das Ergebnis ist pornografischer als die Realität.

Es muss hart sein für Netflix, immer neue reale Personen aufzutun, die irgendwie strittig sind, aber auf eine sexy Art. Krass, ja, aber nicht zu krass, als dass man die Geschichte nicht in einer Hochglanz-Miniserie maximal mainstreamig erzählen könnte. Dann noch eine Lektion über die Unerträglichkeit des Menschseins, die sich in irgendeiner Form aus der fiktionalisieren Version eines echten Lebens destillieren lässt: Fertig ist das Stück Popkultur, das sich für die nächsten Wochen in der Top 10 der meistgestreamten Serien halten wird – bis es von der nächsten Netflix-Eigenproduktion abgelöst wird.

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Im Januar wurde so aus der Kokain-Patin Griselda Blanco – legendär für ihre Brutalität und ihr Liebesleben – die “You go, girl!”-Emanzipationsgeschichte einer Mutter, die leider ein bisschen zu viel Crack raucht. Im Rahmen der Berlinale 2024 zeigt Netflix nun eine Miniserie darüber, wie aus dem armen italienischen Jungen Rocco Tano einer der größten Pornostars aller Zeiten wurde. Leider auch das mit durchwachsenem Erfolg.

Die Netflix-Serie will Rocco Siffredi aus mehreren Perspektiven zeigen

Rocco Siffredi ist für drei Dinge bekannt: seinen riesigen Penis, sadomasochistische Hardcore-Drehs und die Fähigkeit, so dramatisch und mitreißend über die eigene trieb- und tragödienbehaftete Lebensgeschichte zu sprechen, als wäre er Hauptdarsteller einer Oper. Diesen Hang zur epischen Erzählung übernimmt auch die Serie. In Supersex geht es nicht nur um einen Aufstieg, sondern auch um einen Fall.

Direkt zu Beginn wird nämlich etabliert: Rocco (Alessandro Borghi) will seine Pornokarriere an den Haken hängen und nicht mehr nur begehrenswertes Fleisch sein. Dann springt die Geschichte vor allem zwischen Kindheit in heruntergekommenen italienischen Neubauten (mit Marco Fiore als neunjährigem Rocco) und dem 19-jährigen Rocco (Saul Nanni), der zu seinem kriminellen Bruder nach Paris zieht und erste sexuelle Erfahrungen sammelt. Zumindest in den drei Folgen, die bei der Berlinale gezeigt werden. Alle sieben Folgen der Miniserie gibt es dann ab dem 06. März bei Netflix.

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Die Frage, wie Serien-Siffredi zu dieser Entscheidung kommt, schwebt über allem. Wann passiert der Bruch, ab welchem Punkt verschwindet das immer etwas dümmliche Grinsen, das Schauspieler Alessandro Borghi sich irritierend perfekt vom echten Siffredi abgeguckt hat? Hier auch Einblicke in seine Kindheit und Jugend zu bekommen, zu verstehen, wer dieser Mensch war, bevor sein Penis sein Leben übernahm, macht Sinn. Ist spannend. Zumindest in der Theorie.

Supersex? Leider eher peinliche Männerfantasie

In der Realität verlasse ich den Kinosaal mit zwei ersten Malen, die mich nicht glücklich machen. Das erste Mal, dass ich masturbierende Kinder sehe. Nicht nur in einer Netflix-Serie, generell. Und das erste Mal, dass ich mir denke: Diese Serie wäre weniger peinliche Männerfantasie, hätten die Verantwortlichen einfach echte Pornoszenen reingeschnitten. Und das will was heißen.

Männer starren beeindruckt auf Penisse, die man nie sieht, während Frauen in all ihrer Nacktheit ausgestellt werden. Rocco und sein älterer Bruder führen wichtige Männergespräche über Maskulinität und Bruderliebe und was sich eben sonst so kernig und nach Emotion auf Testosteron anhört, während ihnen in einer Gasse von zwei Sexarbeiterinnen einer geblasen wird. Unbezahlter Sex, auch der in feministischen Pariser Swingerclubs, passiert mit Frauen, die vor der Penetration einmal kurz im Schritt berührt werden, bevor sie nach zwei Sekunden laut kommen. All das wirkt, als hätte ein 15-Jähriger Regie geführt.

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Natürlich sind Hetero-Pornos zum Großteil der Inbegriff von Fantasien von und für Männer. Wenn aber auch die vermeintliche Realität innerhalb der Serie – vom Sex ohne Kamera bis hin zu quasi jeder potenziell flirtiven Situation – aussieht, klingt und funktioniert wie ein Porno: Wo ist dann die Fallhöhe zwischen Rocco Siffredi, dem Pornostar, der nach jahrelangem Erfolg seine Karriere beenden will, und Rocco Tano, dem Privatmensch? Wenn alles Porno ist, ist nichts Porno und trotzdem alles fake.

Wie die Serie Sex, Männlichkeit und Beziehungen erzählt, ärgert mich nicht, weil ich es als sexistisch wahrnehme oder mir die weibliche Perspektive fehlt. Ich finde es albern. Und das macht mich auch deshalb sauer, weil der echte Rocco Siffredi so eine verdammt faszinierende Figur ist.

Netflix hatte schon den perfekten Siffredi-Film im Angebot

Wie viel Potenzial eigentlich in dieser Geschichte steckt, konnte man sich schon 2016 auf Netflix angucken. Damals in der Dokumentation Rocco, die ihre Premiere übrigens bei den Filmfestspielen in Venedig feierte. Auch hier geht es um den Wunsch Siffredis, seine Karriere vor der Kamera zu beenden. Die Geschichte seines Lebens, die sich schon früh um seine sexuellen Begierden drehte und um die Angst, sie nicht kontrollieren zu können. Hier gibt es Nuancen in der Darstellung von Sexualität und Männlichkeit. Wir sehen Rocco bei der Planung eines Drehs, in Gesprächen mit seiner Familie, mit Tränen in den Augen über seine Mutter sprechen, schwitzend und mit verzerrtem Gesicht beim Sex vor der Kamera mit der Intensität eines Menschen, der gerade auch sterben könnte.

Ich bin die Frau, die in dem viralen Porno geweint hat

Wer mit dem Œuvre des realen Siffredi vertraut ist, weiß, dass es hier nicht nur um Penetration, ein bisschen Berührung im Schritt, und ekstatisch seufzende Frauen geht. In seinen Pornos wird Sexualpartnerinnen ins Gesicht gespuckt, werden Körperöffnungen so lange geweitet, bis nicht mehr ganz klar ist, ob die Schreie Ekstase, Schmerz oder beides sind. Supersex kommt in den ersten drei von insgesamt sieben Episoden noch nicht an den Punkt, an dem irgendetwas wehtut. Auch wenn Darsteller Alessandro Borghi in Ansätzen zeigt, dass er diesen inneren Krieg einer traurigen Ikone abbilden kann.

Meine Befürchtung ist: Vielleicht wollen die Verantwortlichen um Showrunner Francesca Manieri das auch gar nicht. Irgendeinen Grund muss es ja haben, dass schon in Teasern und Trailern deutlich gemacht wird, es handle sich nur um die lose Adaption eines realen Lebens.

So wie aus einer Griselda Blanco eine Emanzipationsgeschichte wird, lässt sich auch das Leben Siffredis in etwas umdeuten, das leichter zu konsumieren ist. Ein Mann, der in die Pornobranche hineinstolpert und dann merkt, dass es ihm eigentlich doch um echte Verbindungen und Liebe geht. Dafür muss er nur seine früh erlernte Interpretation von Männlichkeit hinterfragen. Klingt doch gut, oder? Klingt nach durchbingen am Wochenende, nach Netflix Top 10, bis zur nächsten Eigenproduktion. Bitte nicht.

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