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Embedded mit den radikalen Siedlern des Westjordanlands

VICE-Korrespondent Simon Ostrovsky spricht mit uns über Israels radikale Hausbesetzer.

Die Hilltop Youth sind anarchistische Squatter in der Westbank, die aus angeblicher Liebe zu ihrem Land so ziemlich auf jede Moral und Autorität scheißen, die ihnen unterkommt—inklusive der israelischen. Sie setzen ohne Rücksicht auf Verluste ihre ultrazionistischen Ideale um, indem sie im Westjordanland illegal Häuser errichten und besetzen ohne sich darum zu scheren, was der Rest von Israel (und der Welt) über sie denkt. Wir haben uns mit VICE-Korrespondent Simon Ostrovsky unterhalten über seine Begegnung mit den radikalen Jugendlichen und darüber, welchen Zusammenhang er im Gesamtkontext sieht zwischen den illegalen Siedlungen und dem gerade wieder aufgeflammten Raketenterror zwischen Gaza und Israel. VICE: Hi Simon, deine Doku zeigt die Hilltop Youth im Westjordanland, aber ich fände es trotzdem interessant, deine Meinung zu hören, zu den jüngsten Eskalationen im Gaza-Konflikt. Was denkst du, wie sich die auf die allgemeine Situation in Israel auswirken?
Simon Ostrovsky: Dass Raketen aus Gaza auf den Süden Israels abgefeuert werden, passiert die ganze Zeit, nur unterschiedlich intensiv. Was sich jedoch nicht geändert hat, ist die Besetzung des Westjordanlands und der kontinuierliche Ausbau der Siedlungen dort. Wenn die Leute sich dafür interessieren, die Dynamik [des Konflikts] zu verändern, sollten sie genau dieses Thema genauer betrachten. Werden Anschläge aus Gaza als Ausrede verwendet, um die Siedlungen noch weiter auszubauen, auch wenn es sich dabei um zwei unterschiedliche Gebiete handelt?
Auf jeden Fall, sagen viele Israelis, „warum hat die internationale Staatengemeinschaft ein Problem mit den Siedlungen, wenn die Palästinenser nicht damit aufhören, uns anzugreifen?“ Das ist ein Argument, das häufig auf israelischer Seite fällt, wenn es darum geht, die Besetzung des Westjordanlands zu rechtfertigen, die der Sicherheit der Israelis und vor allem der Siedler dienen soll. Das Gegenargument dürfte sein, dass diese Sicherheit gar nicht erst gewährleistet werden müsste für die Siedler, die dort leben, wenn sie dort nicht leben würden. Denkst du, die Siedler werden auf die neusten Anschläge besonders reagieren, auch wenn sie nicht direkt betroffen waren?
Du meinst die Raketen aus Gaza? Ich bin mir sicher, dass sie bestens darüber informiert sind. Eine Sache, die sie immer wieder erwähnten, als ich dort war, waren die Anschläge in Toulouse. Ich habe also einige von ihnen gefragt, ob es nicht sicherer wäre, auf der anderen Seite zu leben und manche entgegneten darauf: „Es ist nirgendwo sicher für Juden. Sieh nur, was in Frankreich passiert ist.“ Und dabei ignorierten sie komplett den Fakt, dass vom gleichen Attentäter auch muslimische Nordafrikaner getötet wurden. Anschläge von Palästinensern—und nicht nur von Palästinensern—sind definitiv etwas, das die Siedler genau im Auge haben und es ist Teil ihrer Informationspolitik, um zu rechtfertigen, was sie tun. Oftmals wirkt es wie ein Vergleich von Äpfeln mit Birnen. Meiner Meinung nach kannst du nicht die Anschläge anderer dafür benutzen, um deine eigenen fragwürdigen Taten zu rechtfertigen. Nur weil jemand anderes etwas Übles macht, heißt das noch lange nicht, dass es OK für alle anderen ist, auch etwas Übles zu tun. Es stellt sich aber grundsätzlich auch immer die Frage nach der Intention und zwar auf beiden Seiten. Wie schätzt du das ein?
Es ist ein Teufelskreis, weil jeder Anschlag von Israel ein Vergeltungsschlag ist für einen palästinensischen Anschlag und jeder palästinensische Anschlag ist ein Vergeltungsschlag für den vorangegangenen israelischen Anschlag. Es ist schwer, da den Anfang oder das Ende zu finden. Das Verhalten einer Seite müsste sich ändern, damit die Gewalt aufhört und ich denke, Israel sitzt hier am längeren Hebel. Israel hat mehr zu verlieren, genießt größere internationale Anerkennung, ist eine Demokratie und es muss sich deshalb verantwortungsvoller verhalten, nämlich weil es das kann—anders als diese Gruppe verschiedenster Organisationen, die locker über vier, fünf Staaten im Nahen Osten sowie dem Westjordanland und Gaza miteinander verbunden sind. Was denkt die Mehrheit der Israelis über die Siedler im Westjordanland?
Wahrscheinlich regen sich viele Menschen in Israel über die Siedler auf, weil sie merken, dass sie Israel schlecht dastehen lassen. Der Großteil der internationalen Gemeinschaft teilt die Überzeugung, dass das Westjordanland die zukünftige Heimat des palästinensischen Volkes ist und die Siedlungen stehen dem im Weg. Die Israelis merken also, dass es sie schlecht dastehen lässt und sie ärgern sich über die Siedler, aber der Anteil an Israelis, die aktiv dagegen ankämpfen, ist beschämend gering. Einer neuen Studie zufolge sprechen sich nur 36% der Israelis gegen die Siedlungen aus. Vor ein paar Jahren war es noch die Hälfte, es gab also [einen starken Ruck nach rechts in der israelischen Politik](http://www.israelhayom.com/site/newsletter_article.php?id=4656 oder http://www.israelnationalnews.com/News/News.aspx/156794#.T-1x1WBrrLc).
Es gibt Israelis, die sich wirklich tatkräftig für eine friedliche Lösung engagieren, aber das sind so wenige, dass ich nicht denke, es ist ein unfairer Vorwurf zu sagen, dass Israel kein allzu großes Interesse daran hat oder nicht allzu viel dafür tut, den Konflikt zu lösen. Wie erklärst du dir diesen Ruck nach rechts und den wachsenden Einfluss der ultraorthodoxen Juden in Israel?
Das ist schwer zu sagen. Ich denke, Demographie spielt eine Rolle, wenn es um die ultraorthodoxen Juden geht, aber demographische Strukturen bewegen sich langsamer, als dieser Ruck nach rechts stattfindet. Vielleicht ist es eine Reaktion auf deutlich liberalere Beschlüsse der vorherigen Regierung. Aber ich weiß nicht, ob ich dazu jetzt eine wirklich fundierte Aussage treffen kann, außer festzustellen, dass es passiert. Kannst du dir bei Simcha und Yosef erklären, wo ihre radikalen Ansichten herkommen?
Ich gehe davon aus, dass es eine Mischung auf Nationalismus und Religion ist. Das ist es, was es in der gesamten Region schwierig macht, einen Kompromiss zu finden. So viel vom Denken leitet sich direkt aus der Religion sowie vom religiösen Fundamentalismus ab, was nirgendwo auf der Welt sehr gesund ist. Es gibt eine Menge Jugendliche mit diesem Background und offensichtlich glauben sie wirklich an das, was sie erzählen. Ich denke nicht, dass sie dort mit bösen Absichten hingehen, sie glauben eher an das, was sie tun. Was denkst du, ist der größte Einfluss auf diese Jugendlichen? Sie sagen im Film ja, dass sie der Zeitung nicht mehr als das Datum abkaufen. Kommt es aus den Familien, aus dem Schulsystem? Woher kommen diese radikalen Gedanken?
In Israel im Allgemeinen, aber besonders bei den Siedlern, herrscht, denke ich, die Vorstellung vor, dass die ganze Welt sich gegen Israel verschworen hat und dass es dafür kritisiert wird, egal was es tut. Das Resultat dieses Denkens ist, dass sie sagen: „Weißt du, wir sollten einfach machen, was wir wollen, weil wir sowieso kritisiert werden.“ Wie habt ihr trotz ihrer Einstellung so einen Zugang zu den Typen gefunden?
Es herrscht ein großes Misstrauen den ausländischen Medien gegenüber, also ist es für Journalisten recht schwierig, mit Siedlern zu arbeiten, weil sie meistens einfach nicht mit Journalisten reden wollen. Wir hatten großes Glück, weil wir einen großartigen Produzenten hatten, der ein echter Charmeur ist und es geschafft hat, genug Vertrauen aufzubauen, damit die Jungs uns einen Tag mit ihnen verbringen ließen, um uns einen Einblick in ihr Leben zu geben. Das ist auf jeden Fall ein außergewöhnlicher Einblick.
Ja, wir dachten, es würde sehr, sehr schwer werden, überhaupt einen von ihnen zum Reden zu bekommen. Wir mussten mehrere Male dorthin, bevor wir überhaupt anfingen zu filmen. Wir trafen die Leute und erklärten ihnen, was wir vorhaben, bevor wir mit Kameras zurückkommen durften. Hast du eigentlich irgendwann mal bei einem von ihnen sowas wie ein schlechtes Gewissen oder Empathie den Palästinensern gegenüber gespürt?
Nicht wirklich. Es war wirklich eine „wir gegen sie“-Nullsummen-Mentalität, die sie an den Tag legten. Wegen der Kameras haben sie sich wohl ein wenig zusammengerissen, aber wiederum auch nicht allzu sehr, wie man in den Interviews ja sieht. Sie sehen es wirklich nach dem Motto: „Das ist die echte Welt und alle diese Liberalen da draußen, die sich mit Menschenrechten und sowas beschäftigen, haben keine Ahnung, weil diese Leute versuchen, uns zu töten und deswegen töten wir sie zuerst.“ Das ist natürlich für einen Außenstehenden schwer, sich da wirklich hineinzuversetzen …
Es fällt einem Außenstehenden schwer, aber der Punkt ist auch, dass es ihnen wiederum schwer fällt, sich in den Standpunkt von Außenstehenden hineinzuversetzen. Als Außenstehender siehst du, dass sie den Schutz des israelischen Militärs genießen. Auch wenn sie oft [mit dem Militär] in Konflikt geraten, gibt es eine Obergrenze für die Gewalt, die ihnen angetan werden darf. Bei den Palästinensern dagegen gibt es kein Limit. Am Ende des Tages ist es so, dass die Siedler im Westjordanland viel mehr Freiheit genießen, weil sie all diese Sicherheit und Infrastruktur im Rücken haben und ich denke, das ist das, was vielen Leuten auffällt. Auch wenn es bestimmt einige Palästinenser gibt, die ihnen Leid zufügen wollen, sind die Siedler im Endeffekt diejenigen, die die Mittel haben, um genau das zu tun. Steven Gar, den du in Teil 1 interviewst, scheint ordentlich Einfluss, Unterstützung, Geld und Infrastruktur im Rücken zu haben und dann propagiert er diese völlig abstrusen Theorien, die genauso genommen einfach eine Verdrehung der Geschichte sind. Ist dir sowas in Israel häufiger untergekommen oder sind Typen wie er eher eine extreme Splittergruppe?
Die Geschichtsverdrehung ist im Westjordanland viel populärer als in Israel, aber das soll nicht heißen, dass es nicht auch eine Menge Leute in Israel gibt, die ebenfalls glauben, dass die Palästinenser kein Volk sind, sondern eine Fabrikation, die sich aufs britische Mandat im osmanischen Reich zurückführen lässt. Sie glauben, dass die Leute, die da leben, keine Wurzeln im Land haben und deshalb kein Anrecht auf dieses Land haben. Viele Israelis und darunter besonders die im Westjordanland stellen in Frage, dass es eine palästinensische Nation gibt und darin liegt in meinen Augen ein Riesenproblem. Wenn du nicht bereit bist, deinen Partner in seinem Dasein anzuerkennen, wie sollst du dann eine Einigung mit ihm erzielen? Ich finde, das sollten einige Israelis besser verstehen, weil sie permanent betonen, wie die arabischen Staaten sich geweigert haben, ihre Existenz anzuerkennen und das ist ihnen schließlich selbst auch wichtig. Das Gegenargument sollte demnach sein, dass die Israelis auch das palästinensische Volk anerkennen müssen. Ja, ohne die Anerkennung auf beiden Seiten kann es nicht weitergehen. Was ich mich bei solchen extremen Typen wie der Hilltop Youth immer frage, ist, was eigentlich ihr Plan ist, also wenn sie wirklich alles umsetzen könnten, was sie wollen. Das ist wie mit Rechtsradikalen in Deutschland, deren Forderungen in einer globalisierten Welt einfach null Sinn machen und alleine praktisch schon nicht umsetzbar sind.
Sie sprechen recht offen darüber. Sie glauben nicht an die Zwei-Staaten-Lösung und denken, dass das Westjordanland von Israel annektiert werden sollte. Und wenn die Palästinenser dann bereit wären, unter israelischen Regeln zu leben und keinerlei Einfluss hätten in der Politik, dürften sie bleiben. Aber wenn sie diese Zweite-Klasse-Bürgerrechte dann nicht akzeptieren wollen, dann sollten sie abhauen. Das haben mir die meisten Siedler so gesagt. Bist du dieser Ansicht auch unter Nicht-Siedlern begegnet?
Ich würde nicht sagen, dass die Ansichten außerhalb der Siedlergemeinschaft auch so extrem sind. Aber das Lustige ist, dass die Siedler die Mauer genauso, wenn nicht mehr, als die Palästinenser hassen. Für sie markiert sie symbolisch den Fakt, dass das Westjordanland nicht zu Israel gehört. Aber denkst du nicht, dass die Doku der Hilltop Youth vielleicht zu viel Aufmerksamkeit widmet? Dass dadurch der Eindruck entstehen könnte, dass sie stellvertretend für Gesamtisrael sprechen? Auch in Israel selbst sind sie größtenteils ziemlich verhasst und repräsentieren mit ihrer extremen Meinung nicht die Israelis als solche.
Ich verstehe natürlich deine Bedenken. Aber Political Correctness sollte nicht so weit gehen, dass Fakten versteckt werden und ich denke, es ist viel mehr an den Israelis selbst als an irgendjemand anderem, das zu erkennen. Meine Mission ist natürlich nicht, die öffentliche Meinung zu beeinflussen oder überhaupt die Meinung von irgendjemandem, aber ich möchte nicht, dass Political Correctness sich ordentlichem Journalismus in den Weg stellt und verhindert, das zu zeigen, was wirklich passiert. Hast du eigentlich einen Einblick in die Hintergründe der Expansion bekommen können? Geht es da vor allem um Geld, Macht oder Religion?
Es geht wohl um alle diese Dinge und es ist schwer, das voneinander zu trennen. Ich denke, es gibt ein starkes ideologisches Element in der Besiedlung des Westjordanlands, aber genauso gut gibt es eine Menge wirtschaftlicher Incentives für Menschen, dort hinzuziehen. Dort werden viele Geschäfte gemacht und Landwirtschaft betrieben. Das Land ist dort viel günstiger und du kannst viel größere Häuser für viel weniger Geld haben. Am Ende des Tages entscheiden sich die Leute, wo sie leben wollen und da spielen solche praktischen Bedenken natürlich genauso eine Rolle. Und wenn ihnen dann noch eine Ideologie den Rücken stärkt, die es gutheißt, was sie tun, umso besser. Dazu passt natürlich auch die ganze „Israel von der Landkarte wischen“-Diskussion und der Streit um die Atombombe etc. Denkst du, solche Geschehnisse haben einen ganz direkten Einfluss auf die Siedler und Ultraorthodoxen bzw. deren Popularität und wachsende Anzahl?
Ja, ich denke, der Gedanke, dass sich Israel permanent in Gefahr befindet, spielt rechten Politikern auf der ganzen Welt in die Hand. Es ist einfach nicht hilfreich, wenn Iran sich Israel gegenüber so feindselig verhält, das begünstigt nur eine noch weitere Verschiebung nach rechts und macht es den Palästinensern noch schwerer. Deshalb ist es so wichtig, dass die Menschen die Dringlichkeit eines Friedensabkommens begreifen, welches die Spannungen im gesamten Nahen Osten vermindern könnte.

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