Blick auf ein Krankenhauszimmer mit drei Betten und Maschinen, Max bekam nach einem schweren Unfall starke Opiate verschrieben und wurde süchtig
Foto: pexels
Drogen

Fentanyl in Europa: Wie ich nach einem Unfall süchtig wurde

Als Max synthetische Opioide verschrieben bekommt, gelten sie noch als sicher. Sieben Jahre später kämpft er immer noch mit den Folgen.
Niki Boussemaere
Brussels, BE

Max van Rijsewijk ist 27 und stammt aus dem niederländischen Arnhem. Als Teenager waren Pferde seine Leidenschaft, aber er ging auch gerne auf Partys und nahm viele Drogen. 2016 veränderte ein Autounfall sein Leben für immer. 

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Aufgrund seiner schweren Verletzungen verschrieben die Ärzte Max die Schmerzmittel Oxycodon und Fentanyl. Die synthetischen Opioide galten damals noch als etwas sicherere Alternativen zu Morphin. Das 1959 von dem belgischen Arzt und Chemiker Paul Janssen entdeckte Fentanyl wird in der Medizin als besonders starkes Schmerzmittel oder zur Anästhesie eingesetzt. Es ist viel potenter als andere Opiate, etwa 100-mal stärker als Morphin und 50-mal stärker als Heroin.

Heute ist das Suchtpotenzial dieser Medikamente berüchtigt. Das liegt nicht zuletzt an der Opioid-Epidemie, die seit rund zehn Jahren in Nordamerika wütet. Fentanyl und Oxycodon werden auch in Europa verschrieben, aber die strengere Regulierung hat hier bislang eine ähnliche Entwicklung verhindert.

Viele Menschen wie Max bekommen diese Mittel nach operativen Eingriffen verschrieben, ohne dass man sie vollständig über die Risiken aufklärt. Für manche hat das verheerende Folgen. Max befindet sich inzwischen im Entzug und möchte offen über seine Opioid-Abhängigkeit sprechen – und darüber, wie er es geschafft hat, sich Hilfe zu suchen.


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"Ich war immer schon etwas extrem. Mit 15 oder 16 bin ich regelmäßig samstags nach der Arbeit mit dem Zug nach Amsterdam gefahren, um in Clubs zu gehen. Damals habe ich vor allem Ecstasy und Koks genommen. Als ich dann meinen Partner kennenlernte, machten wir das gemeinsam. Auch er ging sehr gerne feiern. 

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Wir lernten Leute kennen, die noch mehr Drogen nahmen als wir, auch GHB. Selbst da bemerkte ich schon, dass ich ständig die Grenzen auslotete. Häufig war ich die einzige Person in der Gruppe, die nicht wusste, wie man aufhört. Ich konnte nur schwer akzeptieren, dass eine Party vorbei ist.         

Im März 2016 hatte ich dann einen Autounfall. Ich fuhr mit hoher Geschwindigkeit durch den Feierabendverkehr, 100 Stundenkilometer statt der erlaubten 70. Ich hatte auch schon ein paar Gläser Rotwein intus. Mir fiel irgendwas runter und ich versuchte, es aufzuheben. Mein Auto überschlug sich viermal. Ich brach mir vier Rippen, den Rücken an acht Stellen, hatte einen kollabierten Lungenflügel und beschädigte Nerven in meinem Rücken. Es ist ein Wunder, dass ich den Unfall überlebt habe.

Im Krankenhaus fragten sie mich mehrmals am Tag, wie stark die Schmerzen sind – auf einer Skala von eins bis zehn. Jedes Mal, wenn ich etwas über sechs oder sieben sagte, bekam ich eine Pille. Ich hatte keine Ahnung, was es war, bis meine Mutter nachfragte. 'Oxycodon', war die Antwort, 'das macht nicht so schnell süchtig wie Morphin.' Ich war ein bisschen naiv, dass ich mich nicht selbst informiert habe.

Nach fünf Tagen durfte ich zurück nach Hause, musste aber weiter das Bett hüten. Eigentlich hätte ich ein Rehaprogramm anfangen sollen, aber tat es nie. Sie gaben mir einen großen Sack voll Morphin mit nach Hause, der für einen ganzen Monat reichen sollte. Am Anfang wurde mir davon sehr schlecht, aber es half gegen die Schmerzen.

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Mein Körper heilte ziemlich gut, aber zwei Monate später hatte ich immer noch Schmerzen. Also verschrieben sie mir Fentanyl und verdoppelten mein Oxycodon-Rezept. Sie meinten, ich müsse mehr nehmen, um dieselbe Wirkung zu erzielen, aber das sei 'normal'.

Ich merkte schnell, dass ich von den Medikamenten abhängig wurde. Wenn ich morgens aufwachte, fühlte ich mich krank, schwitzte, zitterte und hatte Durchfall. Sobald ich die Medikamente nahm, ging das ganze Unwohlsein weg und 20 Minuten später fühlte ich mich richtig gut. Die Mittel füllten eine Leere in mir, vor allem, weil ich wegen meiner Verletzungen nicht mehr reiten konnte. Ich wurde psychisch und körperlich abhängig.

Unter der Woche nahm ich etwas mehr, als sie mir verschrieben hatten, deswegen hatte ich am Wochenende dann nichts mehr und mir ging es dreckig wegen der Entzugserscheinungen. Los ging es mit Herzklopfen, Schweißausbrüchen und Zittern, gefolgt von Nervosität, Depressionen, Heulkrämpfen und Schmerzen am ganzen Körper. Beim ärztlichen Notdienst war ich bald bekannt, weil ich immer wieder versuchte, Oxycodon und Fentanyl zu kriegen, wenn ich keins mehr hatte.

Nach einiger Zeit normalisierte sich mein Leben und ich ging wieder zur Arbeit. Damit ich mir die ganzen Rezepte leisten konnte, arbeitete ich jeden Tag. Aber irgendwann hörten sie in der Apotheke auf, mir noch ein paar Medikamente zusätzlich zu meinem Rezept zu geben. Ich hatte alle Ausreden aufgebraucht: Packung verloren, Packung gestohlen und so weiter und so fort. Also musste ich durch die Entzugserscheinungen. Es war so schlimm, dass ich nicht das Haus verlassen konnte.

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Ab da ging ich auf den Schwarzmarkt, um das Wochenende durchzustehen. Etwa zur selben Zeit hatte ich die Maximaldosierung beider Medikamente erreicht, aber mein Körper brauchte mehr. Ich verkaufte die Fentanylschachteln, die man mir verschrieben hatte, für mehr Geld, damit ich mir Größere kaufen konnte.

Ich verkaufte das Zeug an Menschen in Belgien, den Niederlanden und Deutschland. Die Leute hatten die komischsten Storys: Einer war ein Pilot, der das Zeug an jemanden weiterverkaufte, der für die Polizei arbeitet, ein anderer war Rettungssanitäter und einer arbeitete in der Suchtberatung. Das Zeug fraß meine ganzen Ersparnisse auf. Ich fuhr mitten in der Nacht von Arnhem nach Den Haag, nur um genug Fentanyl zu haben, um durch den Tag zu kommen. Am nächsten Tag ging die Suche wieder los.

Hätte ich uneingeschränkten Zugang zu dem Zeug gehabt, wäre ich heute tot. Ich musste immer planen und berechnen, für wie lange mein Vorrat reicht. Nach dem Motto: 'Wenn ich soundso viele Milligramm zu dieser Uhrzeit nehme, geht es mir nicht schlecht. Dann brauche ich noch so viel für die Nacht danach. Habe ich genug Geld, um mehr zu besorgen?'

Das ging ziemlich lange so, bis ich nicht mehr klarkam. Ich führte ein Doppelleben, um alles geheim zu halten. Ich log ständig. Ich hatte das Gefühl, keine Alternative zu haben. Aber meine Familie merkte, dass es mir nicht gut ging.

2018 kam ich zum ersten Mal in den Entzug. In der Klinik fragten sie mich, ob ich ganz aufhören will oder lernen will, meinen Konsum zu regulieren. Wenn man einen Süchtigen vor diese Wahl stellt, ist die Antwort sofort klar. Alle wünschen sich, ihren Konsum in den Griff zu kriegen. Aber es funktioniert nicht. Sie warfen mich schließlich vor Ende der Therapie raus, weil ich gegen die Regeln verstoßen und mehr konsumiert hatte, als ich durfte. Meine Sucht blieb. 

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Nach anderthalb Jahren wurden meine Medikamente eingestellt und ich konnte sie nirgendwo mehr finden. Also probierte ich Heroin. Ich kannte jemanden, der es verkaufte. Weil ich bereits so eine hohe Toleranz gegen Fentanyl hatte, dachte ich, es würde zumindest gegen die Entzugserscheinungen helfen. Ich wollte einfach meinen Alltagsverpflichtungen nachkommen können. Als ich es probierte, ging es mir aber genauso dreckig wie davor. 

Ich hatte mich lange dahinter versteckt, dass ich Medikamente konsumierte. Medizin klingt nicht so schlimm wie Drogen. Letztendlich ist Fentanyl viel gefährlicher als Heroin, aber Heroin hat einen viel schlechteren Ruf. Ich schämte mich dafür, dass ich so tief gesunken war. Als ich meiner Mutter erzählte, was ich genommen hatte, erschreckte sie das Wort Heroin am meisten.

Mehrmals musste mich der Krankenwagen abholen. Einmal hatte ich versehentlich ein anderes Mittel genommen – Suboxone, das die Wirkung von Opiaten hemmt – und ich bekam so schlimme Entzugserscheinungen, dass ich ins Krankenhaus musste. Dort gaben sie mir jede halbe Stunde 20 Milligramm Morphin, aber es half kein bisschen. 

Mein Zustand wurde immer schlimmer und ich verletzte alle Menschen um mich herum. Irgendwann begab ich mich drei Tage freiwillig in Isolation. Am ersten Tag brauchte ich meine ganzen Drogen und mein Geld auf und schloss mich in einem Studio über dem Friseursalon ein, in dem ich arbeitete. Ich wollte einen Entzug machen. Mir ging es so schlecht, dass ich niemanden kontaktieren konnte. Aus Versehen hatte ich aber ein Foto meiner Drogen auf dem Instagram-Account des Friseursalons hochgeladen. Jeder konnte also sehen, was ich machte. Aber mir ging es dann so schlecht, dass ich mein Handy nicht mehr in die Hand nehmen konnte. Der Akku war auch irgendwann alle und das Foto blieb einen ganzen Tag online.

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Nach drei Tagen flüchtete ich zu meiner Mutter. Mir war mein Zustand so unangenehm, dass ich mich zwei Tage lang bei ihr im Gartenhaus versteckte. Dort fand sie mich und holte Hilfe. 

Das war der Augenblick, an dem ich mir dachte: 'Ich gebe auf, ich will nicht mehr so leben.' Ich war super dünn, ich hatte meinen Körper zerstört. Mir war klar, dass ich sterben würde, wenn ich das alles noch einmal durchmache. Ich erlebte Augenblicke purer Verzweiflung, weil ich nirgendwo hinkonnte. Nicht mal ins Krankenhaus. Sie ließen mich ja eh kein Morphin mit nach Hause nehmen. 

Bereits ein paar Wochen vor diesem Vorfall hatten meine Mutter, ihr Partner und ich entschlossen, dass ich mir Hilfe suchen werde. Ich habe mich dann bei SolutionS gemeldet, eine der besten Entzugskliniken der Niederlande. Sie gaben mir einen Termin in zwei Wochen. Ich weiß noch, dass mir das viel zu schnell ging, und erfand tausend Ausreden, um die Behandlung aufzuschieben.

Als ich dort anrief, um um mehr Zeit zu bitten, meinten sie zu mir: 'Max, das ist eine besonders gefährliche Phase, weil du dich jetzt von deinen Drogen verabschieden musst.' Es passiert häufig, dass Menschen vor Therapiebeginn besonders viel konsumieren. Meine Drogen waren aber besonders gefährlich. Bei Fentanyl und Oxycodon sind Überdosen tödlich.

Am 14. September 2022 schaffte ich es schließlich und zog in ein Wohnheim für Menschen mit Drogenproblemen. Hier gibt es eine Nulltoleranzpolitik. Der Unterschied zu meiner letzten Einweisung war, dass ich dieses Mal wirklich aufhören wollte. Das war auch dringend nötig. Meine Beziehungen hingen an einem seidenen Faden, das hier war meine letzte Chance mit meiner Familie und meinem Partner.

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Natürlich hatte auch meine Beziehung unter meinem Konsum gelitten. Mein Partner sah, wie es mit mir bergab ging, und konfrontierte mich immer wieder damit. Eine Zeitlang lebten wir getrennt, aber zogen schließlich wieder zusammen. Zum Glück sah er es immer als Krankheit. Er sah, wie ich kämpfte. 

Wir sind jetzt zehn Jahre zusammen, sieben davon habe ich konsumiert. Er hat mich so oft grün und blau gesehen, weil ich eine Treppe runtergefallen war oder so. Unsere Beziehung war immer mehr aus dem Gleichgewicht geraten. Er lebte sein Leben, meins befand sich seit Jahren im Stillstand. Er vertraute mir schon lange nicht mehr. 

Jedes Mal, wenn mir jemand wieder vertraut hatte, habe ich es ausgenutzt. Nach dem Motto: "Einmal tut nicht weh." Ich kann nur schwer akzeptieren, dass ich nie wieder konsumieren darf. 2018 konnte ich an nichts anderes mehr denken als: 'Ich darf gar nichts mehr machen.' Ich war voller Selbstmitleid. 'Alle anderen dürfen, nur ich nicht.'

Jetzt, da ich in einem cleanen Wohnheim lebe und regelmäßig Drogentests mache, haben er und meine Familie wieder etwas Frieden gefunden. Ich selbst habe meine Krankheit akzeptiert und lerne jetzt, für den Rest meines Lebens damit umzugehen.

Wir suchen uns die Sucht nicht aus, aber wir suchen uns aus, wieder gesund zu werden. Ich versuche, alles wieder in Ordnung zu bringen und Verantwortung zu übernehmen, weil ich mich nicht länger hinter meiner Krankheit verstecken will. Auch wenn nicht alle sie als eine solche anerkennen, Sucht ist definitiv eine."

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