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Rais Bhuiyans Welt ohne Hass

Rais Bhuiyan kämpfte dafür, dass der Mann, der ihm das halbe Gesicht wegballerte und drei andere Männer umbrachte, von der Todesstrafe verschont wird.

Rais Bhuiyan ist letzten Sommer durch Europa getourt, um dafür zu kämpfen, dass der Mann, der ihm kurz nach den Anschlägen vom 11. September das halbe Gesicht wegballerte und drei andere Männer umbrachte, von der Todesstrafe verschont wird. Wie es die US-amerikanische Gesetzgebung und deren konservative Auslegung n Dallas es aber so wollten, scherte sich niemand um Rais’ Kampagne und Mark Stroman wurde am 20. Juli 2011 hingerichtet. Seitdem haben wir nicht mehr viel von Rais gehört, der weiterhin mit der Organisation A World Without Hate dafür kämpft, die Hass-Spirale, die durch Gewaltverbrechen entsteht, zu durchbrechen. Wir haben ihn also angerufen, um herauszufinden, wie genau die letzten Stunden vor der Hinrichtung abliefen und was seitdem alles passiert ist.

VICE: Seit der Hinrichtung von Mark Stroman hat man von dir nichts mehr gehört. Was ist seit deiner Reise nach Deutschland letzten Juli passiert?
Rais Bhuiyan: Als ich in die USA zurückkam, stand ich weiterhin im Kontakt zum TDCJ (Texas Department of Criminal Justice) und versuchte die Erlaubnis zu kriegen, mich mit Mark Stroman zum persönlichen Gespräch zu treffen. Eine Klage wurde eingereicht. Jedoch erhielt ich vom Gericht den Bescheid, dass so ein Schlichtungsgespräch nicht stattfinden dürfe. Nach all deinen Bemühungen konntest du Mark Stroman letztlich also nicht treffen?
Bevor ich vor Gericht ging, sagte mir ein Freund von Mark, dass Mark ein Zeitfenster für mich freigehalten habe, in dem wir telefonieren könnten. Also habe ich in der Strafanstalt angerufen. Dort wurde mir gesagt, dass Mark alles sehr bedauere, aber nicht in der Lage sei mit mir zu sprechen. Eine Begründung gaben sie mir nicht. Außer dass Mark nicht mit mir reden könne. Als ich Marks Freund am Telefon davon erzählte, bot er mir an, Mark anzurufen und mein Telefon an seine Freisprechanlage zu halten, damit ich mit ihm reden könne. Hat das überhaupt funktioniert?
Wegen der zwei Handys war die Soundqualität ziemlich schlecht. Ich habe nur wenige Sekunden mit Mark gesprochen und ihm versichert, dass ich ihn nicht hasse und niemals wütend auf ihn war. Ich sagte ihm noch, dass er nicht vom Glauben abkommen sollte und ich für ihn beten würde. Er bedankte sich immer und immer wieder für das, was ich für ihn getan hatte, und sagte: „Du bist ein wunderbarer Mensch, ich liebe dich von ganzem Herzen.“ Was geschah danach?
Nach fünf oder sechs Sekunden sagte mir Mark, dass er gehen müsse. Er ging und kam nie wieder. Mark saß im Gefängnis von Huntsville ein, dort sollte er hingerichtet werden. Ich hab vor Gericht dafür gekämpft, die Hinrichtung hinauszuzögern, sodass ich Mark nochmal sehen konnte. Irgendwann gegen 20 Uhr (am Tag seiner Exekution) bekam ich dann von der Regierung die Nachricht, dass das Gericht die Anhörung beendet hatte. Ich fragte meinen Anwalt: „Was ist unser nächster Schritt?“, und er antwortete: „Es gibt keinen nächsten Schritt“.  Marks nächster Schritt war der Gang zur Hinrichtung, denn nach 20 Uhr konnten wir keinen Einspruch mehr einlegen. Die Hinrichtung war auf 20.30 Uhr angesetzt. Um 20.53 Uhr wurde sein Tod bekannt gegeben. Wir haben Mark Stroman verloren und ich ging zurück. Aber meine Reise war noch nicht zu Ende. Also hast du Mark, außer an dem Tag, an dem er auf dich schoss, nie persönlich getroffen? Hast du eine Idee, warum das Gericht es so schwierig für dich machte? Es klingt absurd: Du, als Opfer, möchtest mit dem Mann sprechen, der dir das angetan hat, und sie lassen dich einfach nicht. Das ist doch paradox.  
Sie haben mir immer wieder gesagt, dass mich ein Treffen mit Mark erneut zum Opfer machen würde. Ich habe ihnen versichert, dass es mit gut geht und ich bereit bin, mit ihm zu sprechen. Immerhin habe ich selbst den Dialog gesucht und das Gericht gebeten, ihn nicht hinzurichten, bevor ich mit ihm sprechen kann. Weißt du, das ist so eine Doppelmoral. Was hast du anschließend gemacht?
Ich hielt lokal, national und international Vorträge, um Menschen aufzurütteln und sie dazu zu bewegen, mit all dem Hass und der Gewalt aufzuhören. Wir müssen die Angst voreinander und vor unseren Unterschieden verlieren, uns gegenseitig akzeptieren und eine humane Entwicklung vorantreiben.  Außerdem blieb ich mit Marks Familie in Kontakt. Ich habe seine Tochter getroffen und ihr und der Familie meine Hilfe angeboten. Sie sind wirklich verstört. Marks Sohn ist auch vom Pfad abgekommen und sitzt gerade wegen eines Raubüberfalles für mehrere Jahre im Gefängnis ein. Die Tochter braucht dringend Hilfe, sie hat gerade ihr dreijähriges Kind wegen ihrer Drogensucht und anderer Probleme abgeben müssen. Ich versuche also nicht nur den Familien der anderen Opfer zu helfen, die ihre Väter und Ehemänner verloren haben, sondern auch Mark Stromans Familie, denn sie sind in diesem Fall auch Opfer. Sie sind unschuldig und haben nichts mit dem Verbrechen zu tun. Ich habe den Eindruck, dass Menschen, die Verbrechen aus Hass begangen haben, wiederum von der Gesellschaft gehasst werden und dass so eine Art ewiger Zyklus daraus entsteht. Glaubst du, dein Verhalten in diesem Fall, könnte in der Gesellschaft als Vorbild dienen?
Natürlich. Wenn man sich nur mal die Geschichte von Mark Stroman und seiner Familie anschaut: Seine Mutter hat ihm gesagt, sie hätte ihn lieber abgetrieben. Stell dir mal vor, deine Mutter hätte dir so was erzählt, als du ein Kind warst. Was löst das mental oder psychologisch bei dir aus? Ich vermute, das hätte eine schwerwiegende Auswirkung. Mark ist mit negativen Gedanken aufgewachsen und jetzt schlagen auch seine Kinder diesen Pfad ein. Das ist ein Teufelskreis. Marks Eltern waren Alkoholiker und kümmerten sich nicht um ihn. Er wiederum kümmerte sich nicht um seine Kinder und nun wird sein Enkelkind vom Jugendamt in Gewahrsam genommen, weil seine Tochter drogenabhängig ist. Ich versuche hier den Kreislauf zu unterbrechen, damit Marks Enkel
nicht im selben Teufelskreis von Hass, Gewalt und Wut aufwachsen. Wir müssen die Gewalt und den Hass bei der Wurzel packen und zerstören. Also glaubst du, dass der Hass in unserer Gesellschaft vor allem auf einer schlimmen Kindheit basiert?
Mark wurde von seinem Stiefvater mit vielen schlechten Eigenschaften großgezogen. Er lehrte ihn, immer hart zu sein und Rache zu üben, wenn ihn jemand kränkte. Nur so könne er in der Gesellschaft überleben. Mark wurde immer wieder dazu gedrängt, einfach zurück zu schlagen. Kannst du die Beziehung beschreiben, die du inzwischen zu Marks Familie  und den Familien der anderen Opfer hast?
Ich stehe mit den Familien der anderen Opfer in Kontakt und versuche, ihnen so gut ich kann zu helfen, mental und finanziell. Ich stehe auch mit Marks Familie in Kontakt. Mit Marks Sohn im Gefängnis habe ich keinen Kontakt, aber ich weiß über seinen Zustand Bescheid. Marks Tochter hält mich über ihren Bruder auf dem Laufenden. Ich unterstütze sie finanziell und rede mit ihr. Es ist sehr wichtig, dass du jemanden hast, mit dem du sprechen kannst, jemanden der dich leitet und dir das Gefühl gibt, ein Mensch zu sein.

Manche Leute könnten behaupten, dass du mit deiner übertriebenen Nächstenliebe etwas zu kompensieren versuchst. Glaubst du, da könnte was dran sein? Wie traumatisch war der Augenblick, in dem du realisiert hast, dass du Mark nicht vor der Hinrichtung bewahren kannst?
Es war von Anfang an ein harter Kampf, das wusste ich. Selbst Leute, die mich unterstützten, sagten mir, es sei ein aussichtsloser Fall. Mark hat nicht nur einen Menschen getötet, sondern zwei und ich hätte der Dritte sein können. Ich war der Ansicht, dass sein Schicksal nicht in meiner, sondern in Gottes Hand lag, aber ich meinen Teil dazu beitragen könnte. Wenn ich ihn nicht vor der Exekution bewahren kann, ist es nicht meine Schuld, denn dann hat Gott es so gewollt. Mach einfach das Richtige. Ohne zu wissen, wie es enden würde, startete ich meine Kampagne. Ich war die ganze Zeit zuversichtlich, weil die Familien der Opfer sich meldeten und es eine gute Chance gab, dass uns der Gouverneur und der Bewährungsausschuss Zeit für eine Anhörung geben würden. Irgendwann kam dann der Tag, an dem die Kampagne endete … Doch bis zum Ende habe ich die Hoffnung nicht verloren. Ich glaubte, dass jederzeit noch etwas geschehen könne. Der Anwalt von Mark Stroman hatte mir von einem Fall erzählt, bei dem ein Klient von ihm noch wenige Stunden vor der Exekution gerettet werden konnte. Ich dachte mir, ich werde einfach alles mir mögliche versuchen, das Richtige eben. Viele Leute können sich nicht vorstellen, dass jemand zu dieser uneingeschränkten Vergebung fähig ist. Woher nimmst du all das?
Die Fähigkeit zu Verzeihen habe ich von meinen Eltern gelernt, sie haben mich in diesem Sinne großgezogen und auch mein islamischer Glaube spielt eine große Rolle. Es ging bei Mark nicht nur um Vergebung, sondern auch darum ein Menschenleben zu retten. Ich habe verstanden, dass seine Exekution seine Tat nicht wieder gut machen würde. Aber wenn man ihm eine Chance gegeben hätte, hätte er Menschen inspirieren können. Wer hätte das besser gekonnt als Mark Stroman? Als ich meine Kampagne begonnen hatte, traf ich Marks Verteidigerin. Sie hat ihm von mir erzählt und von meiner Kampagne für ihn, um sein Leben zu retten. Ich―das Opfer, dem er ins Gesicht geschossen hat,― das konnte er nicht glauben. Dass jemand da draußen sich für ihn einsetzte, nur drei Monate vor seiner Exekution. Aber ist es nicht schwierig, Menschen eine zweite Chance zu geben, weil man ja nie sicher sein kann, ob sie ehrlich sind und sich wirklich verändern. Ist das nicht etwas, was einen zweifeln lässt?
Ja, gute Frage. Wir können nie wissen, was im Inneren von anderen Menschen vor sich geht, wir können sie nur von außen betrachten und ihnen zuhören. Wir haben nicht gefordert, Mark Stroman auf freien Fuß zu setzen, denn natürlich muss er für seine Taten büßen. Wir haben gefordert, ihm sein Leben zu lassen. Und auch wenn er eingesperrt gewesen wäre, hätte er vielleicht einen positiven Beitrag für die Gesellschaft leisten können. Ich denke, viele Leute verweigern sich der Vorstellung, dass manche Taten versöhnt werden können. Wie soll man Rassisten, Mördern oder Kriminellen begegnen? Bist du nicht auch auf viel Kritik gestoßen?
Anfangs bekam ich eine Menge Hassmails, das ist jetzt weniger geworden. Im Laufe der Zeit haben die Menschen verstanden, dass ich meine Kampagne ohne irgendeinen Selbstzweck mache. In den Hassmails wurde ich oft wegen meines Glaubens angegriffen. Mir wurde gesagt, dass ich nicht im Sinne des Islam handle, weil der Islam etwas anderes sagt. Ich sah das als Möglichkeit und redete mit den Leuten. Ich sagte ihnen, dass das ihre eigene vorgefasste Meinung ist, und dass es OK ist, so zu denken. Aber wir müssen die Augen öffnen und die Wahrheit finden. So habe ich auf diese Emails reagiert, ich habe die Verfasser mit Respekt behandelt, nicht nach dem Prinzip: Hass stößt auf Gegenhass. Ich fand eine Möglichkeit wie wir voneinander lernen konnten.   Ich wünschte, dass alle Gruppen, die sich hassen so einen Weg finden würden. Was denkst du über Neonazis?
Auch Neonazis sind nur Menschen. Und wir sind kein Engel. Das sage ich den Leuten immer: Wir sind keine Engel und deshalb machen wir Fehler. Manchmal lernen wir von uns aus, manchmal muss aber auch jemand kommen und uns sagen, was richtig und was falsch ist. Ich glaube wirklich daran, dass sich Menschen verändern können. Der ganze Hass von Leuten gegen andere, kommt nur von Ignoranz und Frustration. Vielleicht fehlt ihnen die Orientierung oder die Liebe im Leben. Wenn wir uns darauf konzentrieren, könnten wir vielleicht solche Menschen aufrütteln, den Pfad des Bösen zu verlassen und auf humane Art zurück zum Frieden zu kommen. Ein schwieriges Thema ist Selbstverteidigung, wo zieht du die Grenze?
Jeder hat das Recht, sich selbst zu verteidigen. Aber ich denke, wenn wir alle dazu erzogen wären, niemandem etwas anzutun, wer müsste sich dann noch gegen das Böse verteidigen? Auch das wurzelt in meinem islamischen Glauben: Erst muss ich selbst das Richtige tun, bevor ich andere dazu ermutige. Es gibt viel Angst auf der Welt. In Großbritannien besuchte ich während meiner Europa-Kampagne ein Islamisches Zentrum, wo ich gefragt wurde, warum ich ihm vergebe. Das hat mich ziemlich geschockt. Meine muslimischen Kameraden haben das, was ich tat, moralisch angezweifelt. Ich bin viel herum gekommen auf der Welt―in den USA, im Irak, an verschiedenen Orten. Ich bin nicht im Auftrag der USA unterwegs gewesen, sondern um meine persönliche Geschichte zu erzählen und mit anderen zu teilen. Wenn wir alle daran arbeiten, könnten wir die gegenseitige Angst und eine Menge Spannungen überwinden. Wie überwindest du diese Angst? Befürchtest du nicht, dass sich so etwas wiederholen könnte?
Es ist immer noch schwer für mich. Aber ich habe mich von der Angst befreit, weil du einfach nie wissen kannst, was in der Zukunft passiert. Ich bleibe auf der richtigen Seite und versuche die moralisch richtigen Dinge zu tun. Wenn mir was Schlimmes passiert, dann soll es so sein und dann muss ich mich da eben durchkämpfen. Aber was ich tun kann, ist, mich generell von Ärger und solchen Situationen fern zu halten. Hast du schon mal jemanden in deinem Leben gehasst?
Hass ist ein gewaltiges Wort. Ich mag viele Dinge nicht, aber ich hasse sie deshalb nicht, ich bin eher verängstigt. Mein Umfeld kennt das so von mir: Wenn ich angegriffen werde, versuche ich ruhig zu bleiben, meine Stimme nicht sofort zu erheben. Das habe ich von meiner Mutter gelernt: „Wenn dich jemand angreift, antworte nicht sofort darauf, denk an mich und was ich dir beigebracht habe. Halte deinen Mund und denke erstmal nach.“ Und nochmal zu deiner Frage: Ich werde oft gefragt, warum ich die Leute, die mir wehtun nicht hasse. Aber ich verspüre anderen gegenüber einfach keinen Hass. Glaubst du das Mark Stroman letztlich seine rassistische Haltung geändert hat? Oder hat er nur das bedauert, was er dir persönlich angetan hat?
Anfangs handelte er wohl nicht aus rassistischen Motiven. Er war wütend und dachte, Unschuldige töten wäre in der Situation das Richtige, weil sein Land in so einer Art Krieg war. Seine Tat war von Ignoranz geleitet, er realisierte nicht, dass es falsch war. Seine Leute haben Dinge gesagt, wie: „Los, die machen wir fertig“. Mark ließ sich von dem Hass mitreißen, er war die Art von Mensch. Aber als er im Strafvollzug saß, begann sein Heilungsprozess. Ich bin mir sicher, er hatte genug Zeit, um über seine Taten nachzudenken. Er hat begonnen sich als Mensch zu betrachten, der einem anderen Menschen das Leben genommen hat, und erkannt dass es Menschen draußen gibt, die ihm seine Tat vergeben. Wir sind alle Menschen. Daraufhin hat er begonnen sich zu verändern. Er hat Frieden gefunden und der Hass, den er im Herzen trug, war letztlich verschwunden. Mark hat mir einen Brief geschrieben―und ein Mann, der so einen Brief schreibt, kann kein Gramm Hass mehr im Herzen haben. Konntest du zu seiner Beeerdigung gehen?
Nein, es gab kein Begräbnis. Marks Leiche wurde verbrannt.