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Menschen auf der Flucht

Im Flüchtlingscamp am Oranienplatz liegt kein Gestank in der Luft, sondern Anspannung

Gesundheitsexperten haben vor „katastrophalen sanitären Zuständen“ im Flüchtlingscamp am Oranienplatz gewarnt.

Der Infopavillion des Flüchtlingscamps am Oranienplatz „Hygiene-Alarm im Flüchtlings-Camp“ titelte die BZ. Gesundheitsexperten hätten vor „katastrophalen sanitären Zuständen“ auf dem Flüchtlingscamp am Oranienplatz gewarnt. Seit Dezember 2012 haben Flüchtlinge dort ein Protestcamp aufgeschlagen. Es gäbe Ratten und Gestank, schreibt die BZ.

Auch eine Vergewaltigung wird den Bewohnern des Camps vorgeworfen. Laut taz-Informationen war der Täter jedoch ein Helfer und kein Flüchtling. Auch geschah die Tat nicht im Camp, sondern in einer Wohnung. Kommuniziert wurde das auf der Pressekonferenz im Camp vor zwei Tagen jedoch nicht. Zu chaotisch war der Ablauf. Der Ruf des Camps bleibt weiterhin schlecht—Innensenator Frank Henkel fordert die Auflösung. Er will, dass Bezirksbürgermeister Frank Schulz die „rechtswidrige Situation am Oranienplatz“ beendet.
Am Dienstag habe ich mich also auf den Weg zum Flüchtlingscamp gemacht. Ich wollte mir das Camp von einem Bewohner zeigen lassen und wissen, was an den Hygiene-Vorwürfen dran ist. Vorab: Weder habe ich den kleinsten Hauch von Gestank wahrgenommen, noch habe ich Ratten gesehen.

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Die Unterkünfte bestehen hauptsächlich aus Gemeinschaftszelten.

Als ich den Infopavillon des Camps betrete, werden ich von Turgay Ulu, einem 40-jährigen Asylbewerber aus der Türkei, begrüßt. Seit über einem Jahr lebt Turgay in provisorischen Unterkünften. Er gehört zu der Gruppe von Flüchtlingen, die das Protestcamp gegründet haben.

Als ich Turgay frage, ob er bereits in der Türkei Deutsch gelernt hatte, wird mir klar, weshalb er aus seiner Heimat geflohen ist: „Ich bin 15 Jahre im Gefängnis gewesen und dann hierher gekommen. Ich hatte keine Chance, vorher Deutsch zu lernen“, sagt der Journalist und Autor.

Turgay wird beschuldigt, im Jahr 1996 einem mutmaßlichen Mitglied einer militanten Gruppe zum Gefängnisausbruch verholfen zu haben. Vor Gericht konnten die befragten Zeugen ihn laut Amnesty International jedoch nicht als Täter identifizieren. Trotzdem wurde er 2002 zunächst zum Tode verurteilt. Später wurde das Urteil in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt. Nach einem Hungerstreik wurde Turgay kurzfristig freigelassen. Er ergriff die Chance und flüchtete, da ihm in der Türkei jederzeit eine erneute Festnahme droht.

Turgay führt mich über das Gelände. Die Zahl der Bewohner im Camp variiert zwischen 50 und 80 Personen, erklärt er mir. Es gibt am Eingang den Infopoint für die Presse, eine Bühne für Theater und Musik, ein großes Zelt, das als eine Art Wohnzimmer genutzt wird, ein Küchenzelt, einen WC-Container, der von der Stadt bereitgestellt wurde, und natürlich die Wohnzelte der Flüchtlinge.

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Die Bühne und das „Wohnzimmer“ des Camps

Ich stehe im Wohnzimmer des Camps—ein blau-weiß-gestreiftes Zeltdach—, unter dem alte Sofas und verschiedene Stühle und Tische stehen. Es ist das Herz des Camps. Hier trifft man sich zum Nachrichtenaustausch und zum Essen. Ein paar Afrikaner, die gerade hier sind, begrüßen mich freundschaftlich, und ich frage, ob mein Fotograf sie und das Zelt fotografieren darf. Ein junger Mann erklärt uns, dass wir das Zelt fotografieren dürfen. Jedoch ohne ihn. Die anderen Männer folgen ihm und schütteln ebenfalls den Kopf. Sie trauen der Presse nicht mehr seit den Vergewaltigungsvorwürfen und der darauffolgenden Stimmungsmache gegen das Camp. „Manche der Flüchtlinge haben Angst und möchten nicht sprechen oder fotografiert werden. Aber ich habe keine Angst, ich bin ein Revolutionär“, sagt Turgay.

In der Camp-Luft liegt kein Gestank sondern Anspannung: „Wir haben hier viel Polizeigewalt gesehen. Dreimal. Tränengas, Schläge und auch Naziattacken“, erzählt mir Turgay. Immer wieder hat das Camp für Schlagzeilen gesorgt. Vor zwei Wochen wurde ein Flüchtling von einem Passanten niedergestochen. Es gab Tumulte von Seiten der Camp-Bewohner. Die kritischen Stimmen gegen das Camp häuften sich weiterhin. Jetzt gibt es auch noch die Hygiene-Vorwürfe.

Auf dem Gelände gibt es einen WC-Container, jedoch keine Duschen. Die Waschmöglichkeiten sind das einzige, was der provisorischen Mini-Stadt fehlt. Aber die Anwohner helfen aus: Es gibt eine Solidaritätsliste, erklärt uns Turgay, und zeigt auf die umliegenden Häuser. Anwohner, die ihr Badezimmer nach Absprache für die Camp-Bewohner zur Verfügung stellen wollen, können sich dort eintragen. Rund 200 Anwohner hätten sich bereits in diese Liste eingetragen, sagt er. Man zeigt sich hilfsbereit. Auch der Strom für das Camp wird durch Spenden finanziert.

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Turgay vor dem Eingang zu dem Gemeinschaftszelt, in dem er einen Schlafplatz hat

Turgay zeigt mir sein Zelt. Es ist stickig und eng, die Möbel sind zusammengewürfelt und ein Bett reiht sich an das andere. Trotz der Unordnung: Es ist sauber hier. Das einzige, das ich riechen kann, ist kein Gestank, sondern der typische Geruch alter Matratzen und Sofas. Es riecht hier nach Omas alter Wohnzimmergarnitur. Ein paar afrikanische Männer schauen uns verwundert an und drehen sich dann wieder dem Fernseher zu, wo gerade eine Nachrichtensendung läuft. Ich fühle, dass ich gerade in den einzigen Raum auf dem ganzen Camp, der so etwas wie eine Privatsphäre besitzt, eingedrungen bin. Nur hier haben die Camp-Bewohner ruhe vor der Presse. Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn bei mir plötzlich jemand im Schlafzimmer steht—ohne Anmeldung. Ich würde nicht wollen, dass mich dort jemand fotografiert. Wir verzichten auf die Frage nach einer Fotoerlaubnis für das Zeltinnere.

Im Küchenzelt gibt es zwar keine Ratten, aber einen Vogel, der Reiskörner stibitzt.

Als nächstes schaue ich mir das Küchenzelt an. Mindestens einmal am Tag wird hier gekocht, je nachdem, wie viele Lebensmittel da sind. Die Organisation der Küche übernimmt eine Arbeitsgruppe. Es gibt im Camp je eine Arbeitsgruppe für die Bereiche Küche, Pressearbeit, Aktionen und Lagermobilisation. Gerade wird in der Küche nicht gekocht. Ein paar Kisten mit frischen Lebensmitteln warten darauf, zu einem Abendessen verarbeitet zu werden. Aus einem offenen Topf stibitzt ein kleiner Vogel ein paar Getreidekörner.

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Ich habe mir das Camp, vor allem aber die Küche, viel schlimmer vorgestellt. Ich glaube, dass die Hygiene-Vorwürfe vor allem dem extremen Kontrast zwischen der bebauten Umgebung und den Zelten am Oranienplatz entspringen. Als jemand, der gerade aus einer Wohnung kommt, ist eine Zeltstadt auf den ersten Blick immer ein Schock. Eine baldige Auflösung des Camps fürchtet Turgay trotz all der campkritischen Stimmen nicht: „Der Bürgermeister von Kreuzberg hat Geduld mit uns“, sagt er.

Fotos von Aljoscha Redenius

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