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Das entfesselte Leben europäischer Expats in Hongkong

„Als weißer Mann glaubst du, dass du über dem Gesetz stehst."

​„Er war weder gemein noch aggressiv. Er war nett und gebildet. In Ordnung eben."

Das sind die Worte einer Prostituierten, die in einem exklusiven Interview mit VICE Rurik Jutting, einen Stammkunden und ehemaligen Banker von Merril Lynch beschreibt. Jutting wurde am 1. November wegen des Mordes an zwei Frauen in seiner Wohnung in Hongkong festgenommen und ​für sch​uldfähig erklärt.

„Mandy" (Name geändert) bewirbt sich selbst auf Craigslist als „local chick that loves white stick" mit einer Galerie von Nahaufnahmen ihres Schritts. Die zierliche 23-Jährige ist redegewandt und intelligent und hat eine Freundin, die ebenfalls als Prostituierte arbeitet. Sie wurde in Hongkong geboren und fing vor vier Jahren als Sexarbeiterin an, als sie in Nordwestengland studierte und „​tar​t cards" in Telefonzellen in der ganzen Stadt verteilte. In Hongkong findet sie ihre Kunden online und berechnet etwa 200 Euro für zwei Stunden Arbeit.

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Sie erzählt, dass sie Jutting ungefähr einen Monat bevor er „aus den Fugen geriet" kennenlernte—wie sie es nennt. Er hatte ihr Profil auf Craigslist gefunden und sie direkt angeschrieben. Ihr erstes Treffen fand in einem Hotelzimmer im 15. Stock eines Hotels statt, das nur fünf Minuten von seiner Wohnung entfernt lag. Sie haben sich zwölf Mal getroffen, niemals in seiner Wohnung. „Ich halte mich aus Prinzip von Orten fern, an denen ich nicht um Hilfe rufen kann", sagt Mandy.

Nach Juttings Festnahme berichtete die Lokalpresse, dass die Polizei eine ​gerin​ge Menge Kokain in seiner Wohnung gefunden hatte. Mandy bestätigt das. „Wir haben nie viel genommen, weil er sonst nicht [durchhalten] konnte. Wenn er nervös wurde, habe ich ihn einfach gebeten, sich hinzusetzen und mit mir zu reden."

Während ihres ersten Nachrichtenaustauschs, bevor sie sich persönlich getroffen haben, hat Jutting ihr Drogen angeboten, um sie zu ködern: „Wenn du high werden möchtest… Ich hab viel Koks da…".

Für Expat-Banker wie Jutting mit viel Geld in der Tasche und einer unruhigen Nase ist es genauso leicht, an Drogen zu kommen, wie eine Straße im Zentrum oder in Wan Tai entlangzulaufen. Während Einheimische Ketamin und Meth bevorzugen, ist Kokain die Droge der Wahl für die meisten jungen Expats in der Stadt. Es ist zwar nicht billig (ca. 100 Dollar pro Gramm), aber um Geld müssen sich die alleinstehenden jungen Männer, die jährlich bis zu 450.000 Euro verdienen, keine Sorgen machen. Dieses Umstände haben zum Entstehen einer Kultur geführt, in der es für junge britische Expats in Hongkong schnell normal wird, zu Prostituierten zu gehen und sehr viel Kokain zu nehmen.

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Xander ist ein blonder ehemaliger Internatsschüler aus Eastbourne, der mittlerweile im Finanzsektor arbeitet. Er ist letztes Jahr nach Hongkong gezogen und hat schnell eine Vorliebe für Koks entwickelt. „Mir werden mindestens ein Mal am Tag Drogen angeboten", sagt der 25-Jährige. „Du gehst aus und alle sind auf Drogen."

Nachdem er seinem Abschluss an einer renommierten schottischen Universität gemacht hat, wurde er zunächst nach Singapur geschickt, ein Land mit einer harschen Drogenpolitik. Dort hat er erste Erfahrungen mit Prostituierten gesammelt. „Bevor ich nach Asien kam, wäre es mir nicht im Traum eingefallen. Zu Hause hätte ich nie mit einer Prostituierten geschlafen."

Doch an seinem 24. Geburtstag haben ihn seine Kollegen in eine Bar in den berüchtigten Orchard Towers mitgenommen, dem sogenannten Sex-Einkaufszentrum, unter den Ortsansässigen auch als „die vier Hurenstockwerke" bekannt. Die Gruppe bestellte Drinks und schon nach kurzer Zeit kam ein Mädchen an den Tisch.

Xander: „So funktioniert das. Ein Mädchen spricht dich an, du glaubst, dass sie dich sympathisch findet und einfach ein normales Mädchen ist. Du fängst an, sie zu küssen, befummelst sie vielleicht ein bisschen und dann sagt sie dir, wie viel sie kostet. Das erste Mal war ich schockiert, doch durch die Selbstverständlichkeit, mit der das Ganze passiert, gewöhnt man sich irgendwie dran."

Nachdem sie sowohl in Großbritannien und Hongkong als Prostituierte gearbeitet hat, ist Mandy zu der Überzeugung gelangt, dass zwar alle Männer für Sex zahlen, dass aber die Situation im fernen Osten schlimmer ist. „In Asien ist Sex generell leichter zu bekommen und billiger. Sie sind wie Kinder im Süßigkeitenladen. Ich meine, wenn ich dir eine Kreditkarte ohne Limit gäbe und dich zu Harrods schicken würde, dann würdest du doch auch wie verrückt einkaufen."

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Ich fragte sie, ob es Unterschiede zwischen ihrer Arbeit in Großbritannien und Hongkong gebe. Sie erklärte es mir anhand eines durchschnittlichen englischen Kunden. „In England kommt der Mann zu mir, weil seine Frau keinen Analsex haben möchte und ihn auch nicht Daddy nennen will. In Hongkong kommt derselbe Mann zu mir, um darüber zu sprechen, dass er seine Familie nicht sieht. Er sucht einfach nur menschliche Nähe."

§

Als er in Hongkong ankam, hatte sich Xander bereits daran gewöhnt, für Sex zu bezahlen. Er will auf keinen Fall nach London zurück. „Hongkong ist wie Disneyland für Erwachsene, es gibt hier keine Regeln."

Russel, 29, aus Hampstead Heath, erging es genauso, als er das erste Mal in die Stadt kam. Der leise sprechende Analyst, der vier Jahre lang in China gearbeitet hat, kann sich noch gut an den Tag erinnern, an dem er auf dem Flughafen landete und von einem alten Freund aus dem Gymnasium begrüßt wurde.

Russel, der mittlerweile „über 50 Mal" für Sex bezahlt hat, zeigte mir einige der Internetseiten, die er benutzt, um Prostituierte zu finden. Alle davon sind beeindruckend direkt und leicht zu bedienen und auf Englisch und Chinesisch aufrufbar. Profile kann man nach Ort, Preis und Arbeitszeit filtern. Es gibt auch ein kleines Symbol, dass anzeigt, wenn eine Prostituierte ihren „freien Tag" hat. Auf jedem Profil sind die Körper der Mädchen genau beschrieben. Außerdem sind ihre Telefonnummern aufgeführt sowie eine Liste dessen, was die Mädchen mitmachen und was nicht.

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Unter die Kriterien fällt das Übliche, z.B. „Anal", „Ins Gesicht spritzen" und „Blowjob ohne Kondom", aber eben auch etwas ungewöhnlichere Sachen wie „Ice Fire" und „Heater provided". Prostituierte, die als OK bewertet werden, erhalten ein grünes Häkchen. Es gibt auch eine Kommentarfunktion, mit der Männer Bewertungen oder Fotos von ihren Treffen mit dem jeweiligen Mädchen posten können. Wie bei TripAdvisor.

In dieser ersten Nacht hat sich Russell anhand guter Bewertungen auf der Seite ein paar Mädchen ausgesucht. „20 Minuten später haben wir alle in dem gleichen Zimmer einen geblasen bekommen. Obwohl die meisten von uns zu viel Kokain genommen hatten, um hart zu werden."

Bei Xander war es ähnlich. Er hatte gerade ein Meeting mit einem amerikanischen Kunden abgeschlossen, der daraufhin vorschlug, in Wan Chai noch etwas trinken zu gehen. „In einem Augenblick erzählte er mir von seiner Familie und dass er seine Frau, seine Kinder und seinen Hund einfliegen lassen möchte. Im nächsten rannte er halbnackt in der Bar rum und ließ sich von den Stripperinnen einen blasen. Genau vor meiner Nase. Also habe ich mir auch einen blasen lassen. Ich habe es auf seine Rechnung setzen lassen."

Er fügte hinzu: „Als weißer Mann glaubst du, dass du über dem Gesetz stehst."

Xander ist nicht der einzige, der sich in einer Stadt, in der es vor jungen Expats nur so wimmelt, unantastbar fühlt. Mandy: „Sie fühlen sich hier wie die Könige. Sie sind wie Sternschnuppen. Zu Hause sind sie gut, richtige Ellbogentypen. Wenn sie hierher geschickt werden, brennen sie schnell aus."

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„S", eine 22-jährige ehemalige Begleitdame, die jetzt eine Gruppe von Luxusprostituierten in Hongkong und Macau managt, erklärte uns, dass Männer aus dem Westen sich im Allgemeinen eher für Verfügbarkeit als für Qualität oder Komfort entscheiden. „Die Ausländer gehen nach Wan Chai. Sie wollen einfach nur irgendeine Vagina, in die sie ihren Schwanz stecken können."

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Während reiche Expats sich in den steilen Straßen von Lan Kwai Fong treffen, um unter Leute zu kommen, werden sich diejenigen, die die Nacht in einem Stundenhotel zum Abschluss bringen wollen, nach Wan Chai begeben. Die Ecke Lockhart Road und Luard Road ist das perfekte Spiegelbild für den Wahnsinn von Hongkongs Rotlichtviertel. Die Taxifahrt dorthin dauert fünf Minuten und kostet weniger als zwei Pfund.

Auf der einen Seite der Straße lehnen sich die Drogendealer gegen die Wand eines chinesischen Fastfood-Restaurants. Auf der anderen Seite warten die Mädchen, die sich in Schichten abwechseln und auf Barhockern neben einer Wechselstube sitzen. Ähnlich wie in Berlin, wo man die Prostituierten an der Oranienburger Straße an den schwarzen Korsetten über ihren Jacken erkennt, haben die Prostituierten in Wan Chai ihr eigenes Outfit: lange Haare, wenig Make-Up, ein Klecks Erdbeer-Lipgloss und ein knappes Outfit, das meistens nur aus einem Tube-Top und Hotpants besteht. Sie stützen ihre Füße in den hohen Stilettos auf der Fußstütze der Barhocker ab oder lehnen sich gegen die Straßenschilder vor den Bars und unterhalten oder schreiben sich. Sie wirken dabei wie gelangweilte Schulmädchen.

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Sobald du dich der Ecke näherst, schauen sie kurz auf, um dich zu mustern. Wenn eine Frau mit dabei ist, wenden sie sich wieder ihren Nagelfeilen und Smartphones zu. Wenn es eine Gruppe von Männern oder ein einzelner Mann ist, springen sie auf und rufen: „Hey Süßer! Wollen wir eine Party feiern?"

New Makati Pub & Disco liegt an der Ecke. Dort soll Jutting sein ​zw​eites Opfer getroffen haben, die 29-jährige Seneng Mujiasih (alias Jesse Lorena). Im Makati und in einigen anderen Bars an der Lockhart Street und Jaffe Road arbeiten auch „Freiberuflerinnen", die keine mama-san (Zuhälterin) haben. Diese Mädchen werden von den Straßenmädchen verscheucht, die ihr Territorium verteidigen.

Die zwei Frauen, deren Körper in Juttings Wohnung entdeckt wurden, nur drei Gehminuten vom Makati entfernt, stammen beide aus Indonesien. ​Fast die​ Hälfte der 320.000 Hausangestellten von Hongkong stammen aus Indonesien. Viele von ihnen kommen auf der Suche nach Arbeit in die Stadt und enden als Teilzeit-Sexarbeiter, um Schulden abzuzahlen oder über die Runden zu kommen.

„Tiara", 24, zog vor fünf Jahren von Indonesien nach Hongkong und arbeitet inzwischen als Vollzeit-Prostituierte. Für zwei Stunden berechnet sie um die 150 Euro, für eine ganze Nacht um die 300. Früher hat sie Kunden im Makati aufgegabelt, aber mittlerweile hat sie ein Profil im Internet, weil es darüber einfacher ist, Männer zu filtern. Das Geschäft ist in letzter Zeit schlechter geworden, deshalb bittet sie mich, die Werbetrommel zu rühren. „Du hast doch sicher viele männliche weiße Freunde. Wenn sie Spaß haben wollen, dann kannst du mich doch vorstellen. Ich kann alles machen", sagt Tiara und listet mir die ganze Liste der sexuellen Praktiken auf.

Die meisten Kunden von Tiara sind Expats aus dem Westen, viele von ihnen nehmen Drogen. „Sie wollen harten Sex. Sie bezahlen, aber manchmal tun sie mir weh." Ich frage sie, was sie über den Jutting-Fall denkt. „Er ist ein Psychopath", antwortet sie.

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Mandys letztes Treffen mit Jutting fand nur zwei Tage, bevor er sein erstes Opfer ermordet haben soll, statt. Ich fragte sie, ob sie bei den Treffen mit ihm jemals Angst hatte. „Nie. Er war in Ordnung."

Juttings letzte Nachricht an Mandy betraf seinen Führerscheinentzug, das war nur vier Tage, bevor er verhaftet wurde. „Er hatte wegen irgendetwas Angst, aber er wollte mir nicht sagen, wegen was." Was hat sie gedacht, als sie die Nachrichten gesehen hat? „Dass sie einen Koksschnupfer zu weit getrieben haben."

Mandys Einstellung gegenüber Jutting ist dieselbe, die sie gegenüber all ihren jungen britischen Kunden hat, denen, die Geld gegen menschliche Nähe tauschen, in einem Land und einer Kultur, die zwar neu und spannend sind, aber eben auch mit Reizen überflutet sind und einsam machen können. „Es ist nicht so, dass ich ihn mochte. Ich wusste einfach, dass er ausbrennen würde, aber nicht einfach so. Deshalb tat er mir Leid. Vielleicht hatte ich sogar Mitleid."