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Libanesen kämpfen mit Selfies gegen die Gewalt

Junge Libanesen wollen unter dem Motto „I am not a martyr“ darauf aufmerksam machen, dass Menschen, die im Libanon bei Anschlägen getötet werden, keine Märtyrer sind, sondern Opfer. Und man sollte ermitteln, wer sie umgebracht hat.

Die Bilder, die Mohammed Schaar im Libanon zu einem Symbol gemacht haben, sind nur wenige Augenblicke nacheinander entstanden. Auf dem ersten schaut der 16-jährige Libanese entspannt in die Kamera. Im Hintergrund erkennt man deutlich einen goldenen Honda-Pickup. Auf dem zweiten, von einem Journalisten geschossenen Bild, sieht man Mohammed leblos auf dem Asphalt liegen, eine Blutspur neben seinem Kopf. Nur wenige Sekunden nach der Entstehung des Selfies war eine im Honda versteckte Autobombe explodiert.

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3 are fine and out of the hospital except "Mohammad Shaar" Pray for him please :(:( #Lebanon #Beirut #friends pic.twitter.com/NpRl2TH3LJ

— Dana Tamim (@TamimDana) 27. Dezember 2013

Der Anschlag am 28. Dezember in der Beiruter Innenstadt tötete außer Mohammed auch sein eigentliches Ziel—den ehemaligen Minister Mohammed Schattah, und sechs weitere Personen. Normalerweise reagieren die Libanesen auf solche Morde mit schicksalsergebenem Schulterzucken. Aber die Vorher-Nachher-Bilder des Teenagers haben einen Schock ausgelöst, und zum ersten Mal in der blutigen Geschichte des Libanon scheint sich Widerstand gegen die Sinnlosigkeit der politischen Gewalt zu regen. Seit letztem Freitag posten vor allem Jugendliche unter dem Hashtag #notamartyr Selfies mit Botschaften, durch die sie den ziemlich nachvollziehbaren Wunsch ausdrücken, nicht als unfreiwillige „Märtyrer“ zwischen die Fronten der Extremisten zu geraten.

Die Gefahr, dass der grausame Bürgerkrieg aus dem benachbarten Syrien in den Libanon übergreifen könnte, wächst fast täglich. Im Libanon leben neben Christen, Drusen und Alawiten vor allem Sunniten und Schiiten, die sich auf gegenüberliegenden Seiten im syrischen Krieg einmischen. Die schiitische Hisbollah-Miliz unterstützt Baschar al-Assad gegen die sunnitischen Rebellen, deren Fraktionen aber ebenfalls fast alle Ableger im Libanon haben.

„Niemand ist je gestorben und dann zurückgekommen, um davon zu erzählen.“

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Bis jetzt ist es auf libanesischem Boden nur in Randgebieten zum offenen Kampf gekommen. Aber die Ermordung des Sunniten Schattahs bildet ein Glied in einer Kette aus Bombenanschlägen, die in Regelmäßigkeit abwechselnd in schiitischen und sunnitischen Wohngegenden verübt werden. (Für die letzte Detonation einer Autobombe in einem schiitischen Viertel, die fünf Menschen tötete, hat sich eine der berüchtigtsten al-Qaida-Milizen aus Syrien bekannt: der Islamische Staat im Iraq und Syrien (ISIS).)

Gleichzeitig bringen mehr als eine Million syrischer Flüchtlinge die bereits überlastete Infrastruktur des Landes an den Rande des Zusammenbruchs.

Es ist also kein Wunder, dass Beobachter mittlerweile vor „irakischen Zuständen“ oder dem „perfekten Sturm“ im Libanon warnen oder für 2014 einen schwelenden Bürgerkrieg voraussagen. Eine Handvoll Selfies wirkt in der Situation zuerst einmal wie ein ziemlich naiver Versuch, die eskalierende Gewalt aufzuhalten.

Um zu verstehen, was die Libanesen dazu veranlasst hat und was sie sich davon erhoffen, habe ich den Blogger Gino Raidy angerufen, der den Anschlag, bei dem Mohammed Schaar starb, aus nächster Nähe miterlebt hat.

Gino Raidy

VICE: Wo warst du bei der Explosion, die Schattah und Mohammed Schaar tötete?
Gino Raidy: Ich war genau hinter einem Hochhaus, also konnte ich zwar die Schockwelle und die Explosion hören, sie aber nicht sehen. Ich habe einen Freund, der in dem Gebäude genau gegenüber von der Explosion lebt, also bin ich da hoch. Ich war vor der Polizei und der Feuerwehr da. Ungefähr fünf Autos brannten, und mindestens zwei Menschen lagen auf dem Boden. Einer davon war der Junge, der getötet wurde.

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Mohammeds Tod scheint die libanesische Öffentlichkeit mehr bewegt zu haben, als das sonst der Fall ist.
Libanesen sind eigentlich sehr gewöhnt an diese Gewalt und Explosionen, und das hat zu einer gewissen Abstumpfung geführt. Es gibt so einen Witz: Wenn am Nachmittag eine Bombe explodiert, sind zur Happy Hour alle schon wieder in den Clubs. Das war für uns früher ein Grund, stolz zu sein: Egal was passiert, wir Libanesen machen immer weiter und lassen uns die Laune nicht verderben. Aber mittlerweile ist das an einem Punkt angelangt, wo es einem Angst macht. Weil es einfach niemanden mehr interessiert, wenn etwas passiert. Aber bei Mohammed war es anders.

„Ich will, dass unsere Gendarmerie uns vor Gaunern schützt, nicht, dass sie die Gauner sind.“

Wie ist das passiert?
Die neue Bewegung heißt „I am not a martyr“. Das ist sehr interessant, weil der Begriff „Märtyrer“ im Libanon zu einem Mittel geworden ist, um sich vor der Verantwortung für eine echte Ermittlung zu drücken. Wenn jemand stirbt, nennt man ihn einfach einen Märtyrer und macht weiter. Der Begriff „Märtyrer“ hat religiöse und ideologische Bedeutungen—aber wenn jemand einfach beim Einkaufen umgebracht wird, dann ist er doch kein Märtyrer! Er ist ein Opfer, und man sollte ermitteln, wer ihn umgebracht hat.

Kommt das überall gut an?
Jetzt laden alle diese Fotos hoch. Es ist sehr schön, dass die Leute jetzt keine Angst mehr haben. Dass es jetzt kein Tabu mehr ist zu sagen: „Nein, ich will kein Märtyrer sein.“ Wenn jemand stirbt, ist er ein Opfer, und die Täter sollten gefunden werden.

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Kann diese Bewegung irgendetwas ändern?
Die Regierung wird trotzdem keine richtigen Ermittlung durchführen. Aber wenigstens verändert es die Einstellung der Leute ein bisschen. Und langsam wird das Ganze zu einer Plattform, auf der die Leute auch andere Dinge verlangen: Minderheitenrechte, LGBT-Rechte, das Recht auf Zivilehe [ein veraltetes Gesetz macht es im Libanon unmöglich, Anhänger anderer Konfessionen zu heiraten]. All diese Dinge werden im Libanon nie in Angriff genommen, weil es immer irgendetwas anderes gibt. Sie sagen dir: „Es ist jetzt nicht die Zeit, über Schwulenrechte oder Frauenrechte oder die Korruption in der Polizei zu reden, weil gerade Krieg ist, oder wegen Syrien, oder Israel.“ All die Alltagsprobleme der normalen Leute werden nie angegangen, weil immer irgendwie eine Ausnahmesituation herrscht.

Wie angespannt ist die Lage im Libanon aktuell?
Sehr, sehr angespannt. Man konnte das bei Mohammad Chaars Beerdigung sehen. Es gab eine Auseinandersetzung, als der sunnitische Mufti angegriffen wurde, von Sunniten, die ihn für zu lasch gegenüber der Hisbollah halten. Die Armee musste kommen und ihn befreien. Sowas bei der eigentlich unpolitischen Beerdigung eines Jungen zu sehen, das zeigt, dass die einfachen Libanesen langsam sehr wütend werden. Ich habe noch nie so hohe Spannungen erlebt, und das liegt natürlich an Syrien.

„Jeder von uns hat einen anderen Glauben, aber unsere Freundschaft hat keinen Glauben.“

Kann die NotAMartyr-Bewegung da wirklich etwas ausrichten?
Wenn die Bewegung weiter wächst, könnte sie zum Beispiel in der Frage der Zivilheirat genug Druck aufbauen. Das wird zwar die große Politik in der Region nicht verändern, aber wenigstens kann es das tägliche Leben der normalen Libanesen verbessern. Ich habe also Hoffnung, dass die Bewegung viele kleine Siege erringen und dadurch das Leben der Menschen echt verändern kann. Sie wird keine Macht im Parlament bekommen, und sie wird dem Land auch nicht totalen Frieden und Stabilität bringen. Es wird keine allumfassende Lösung sein. Aber wenigstens gibt es den Menschen in ihrem Alltag eine Stimme.