Blutige Tage in Kairo

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Blutige Tage in Kairo

Werden die Ägypter jemals damit aufhören können für ihre Freiheit zu revoltieren? Und dabei zu sterben?

Seit über einer Woche liefern sich Ägyptens gehasste Polizei und die Jugend des Landes nun offene Schlachten in den Straßen, während das Land brennt, erstickt und sich seinen Weg durch die (manche würden sagen: zweite) Revolution blutet.
Das Waffenarsenal der Kämpfer auf beiden Seiten besteht aus Steinen, Kugeln des Kalibers 22, Feuerwerk, Molotow-Cocktails, Gummigeschossen, Stöcken und Keulen, vor allem aber aus einer unvorstellbar großen Menge Gas: CS, CR, CN, Cyanid und Arsen—das meiste ist Jahrzehnte alt und stammt aus Italien, den USA und China, was es noch viel giftiger macht. Die Polizei feuert pausenlos Gas in die Menge, die sich vom Tahrir-Platz bis hin zum Justizministerium, ausgebreitet hat. In Alexandria wurde einem Demonstranten eine Gasgranate aus kurzer Distanz in den Nacken geschossen. Er war fast augenblicklich tot.
Wenn das nicht effektiv genug ist, um die aufwieglerische Menge aufzulösen, benutzen sie einen Wagen, der den Scheiß in die Luft sprüht und die Stadt rund um den Tahrir-Platz und seine meist armen Bewohner in Nervengas hüllt. Es verursacht Erbrechen, Erblindung und Krampfanfälle—und wer weiß, was es in zehn Jahren auslöst.
Heute findet die erste Runde der Parlamentswahlen statt, die höchstwahrscheinlich in einem Sieg der Muslimbruderschaft, Ägyptens mächtigster Partei, enden wird. Die Wahlen sollen, so wie vor Kurzem in Tunesien, wie aus dem Lehrbuch ablaufen. Aber als sich die Wahlen in Ägypten näherten, wurde der Bruderschaft klar, dass sie sogar bei einem demokratischen Sieg unter dem Obersten Militärrat regieren müssten. Am letzten Freitag organisierte die Bruderschaft einen riesigen Protest gegen den Obersten Rat, der versucht, seine Macht über die gewählte Regierung in die Verfassung zu schreiben. Der friedliche Protestmarsch sollte der Armee deutlich machen, dass die Bruderschaft eine Macht darstellt, mit der man rechnen muss. Zugeständnisse wurden eingeräumt. Während sie darüber stritten, wer welche Macht über das Land bekommen sollte, vergaßen der Oberste Rat und die Muslimbruderschaft die vielleicht wichtigste Wählerschaft: die Freunde und Familienmitglieder der Revolutionäre, die zu tatsächlich gekämpft hatten und gestorben sind, um diese Wahlen überhaupt erst möglich zu machen. Anders als in Tunesien und Libyen—die beide ihre korrupte Regierung komplett abgeschafft haben—wurde in der ägyptischen Revolution nur der eine Diktator durch einen anderen ersetzt, ernannt von einem Militärrat. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte das eher nach einem Staatsstreich als nach einer Revolution ausgesehen. Die Tatsache, dass der Oberste Rat Tausende von Demonstranten und Bloggern ohne Gerichtsverhandlung festgenommen und festgehalten hat—während sie darüber hinaus noch einen wirklich schlechten Job als Führung des Landes gemacht haben—half da nicht gerade weiter. Jeder will das Unmögliche: Die Demonstranten wünschen sich den Rückzug des unterdrückerischen Regimes, das von den USA gestützt wird und einen großen Teil der ägyptischen Wirtschaft kontrolliert. Die Armee hingegen verlangt den Rückzug der Demonstranten, ebenfalls ein Ding der Unmöglichkeit für die Dutzenden Märtyrer, Tausenden Verletzten und die allgemeine Wahrnehmung, dass dies hier die letzte Chance sein könnte, eine wahrlich freie Demokratie zu bilden. Obwohl Meinungsumfragen in Ägypten eine zunehmende Missbilligung gegenüber der jämmerlichen Bilanz des Obersten Rates als Führung zeigen, haben auch viele Angst vor einer Zukunft ohne autoritäre Führung.
Während die Gummigeschosse auf die Wände einer Gasse nahe des Tahrir-Platzes knallten, habe ich mit einem Mann, der als staatlicher Buchhalter arbeitet, über die Geschehnisse gesprochen. Er sagte, er sei über die Situation nicht sehr glücklich: „Das Militär ist organisiert, es erledigt die Dinge. Denkt man an die Türkei, sieht man, wie lange sie für die Übertragung der Demokratie gebraucht haben, aber schließlich hat die Armee es zugelassen.“ Die Demonstranten hier jedoch scheinen keine weiteren 30 Jahre warten zu wollen. Sie wollen ihre Freiheit und sie wollen sie jetzt. „Die Leute verlangen den Niedergang dieser Regierung der Schande“, ruft die Menge. „Nicht wir gehen—er geht!“, kreischen sie und beziehen sich dabei auf Feldmarschall Mohamed Hussein Tantawi, den Vorsitzendern des Obersten Rats der Streitkräfte. Ihre Schreie hallen von den Wänden in den staubigen Straßen Kairos wider. Alle auf dem Tahrir-Platz wissen, was sie wollen—dass die Armee ihre Macht abgibt—aber es ist schwierig, Demonstranten zu finden, die eine klare Vorstellung davon haben, was als nächstes passieren soll. Und das ist die Krux an der ganzen Sache; Ägypten befindet sich gerade in einer Sackgasse. Es ist schwierig, sich auf Politik zu konzentrieren, wenn überall in Kairo dutzende Feldlazarette aus dem Boden wachsen, die normalerweise nur aus ein paar Liegen, irgendwelchen zusammengesuchten Ärzten und einer Mannschaft aus Freiwilligen bestehen, um dem endlosen Zufluss an Patienten vom Platz unterzubringen. In den Krankenstationen nahe der Front werden Arbeiter behandelt, die von dem Gas verletzt wurden. Einige sind gestorben In Kairo selber feuern die Menschen die wütenden Demonstranten an, essen Zuckerwatte, schlafen auf Decken und rauchen riesige Mengen an Zigaretten, die nach einer kräftigen Dusche Tränengas eigentlich ziemlich gut schmecken. Anders als bei der Revolution in diesem Frühling, als der Platz sich wie das Zentrum Ägyptens anfühlte, findet die Auseinandersetzung heute auf den vom Kampf ermüdeten Straßen zwischen Tahrir und dem Innenministerium statt.
 
Vergangene Woche drängten die Demonstranten die Polizei hinter die vor dem Ministerium postierten Panzer und Soldaten zurück. Merkwürdigerweise richteten die Demonstranten ihre Wut weniger gegen die Soldaten, sondern vielmehr gegen die Polizei, die für die vielen Toten verantwortlich ist. Religiöse Gelehrte in weißen Roben und roten Hüten laufen durch die zerstörten Straßen und versuchen, zwischen den Aufständischen und dem Militär einen Waffenstillstand auszuhandeln, aber als die Demonstranten sich zum Sonnenuntergang zum Gebet hinknien, feuert die Polizei eine weitere Ladung Tränengas über die Köpfe des Militärs in die kniende Menge. Diese antwortet mit einem schnellen Hagel aus Steinen, bevor sie sich in der Dämmerung auflösen, verfolgt von dem lauten Krachen der Gewehrkugeln. Motorräder hetzen in die vernebelte Dunkelheit, bergen die zusammengebrochenen Verletzten und eilen zum nächsten Feldlazarett. Und der Kampf wütet weiter. Nach einer langen Nacht voller Kämpfe wurde ein weiterer Waffenstillstand ausgerufen, nachdem der Oberste Rat Wahlen zusicherte und sich bei den Demonstranten entschuldigte. Den Menschen auf und um den Tahrir-Platz ist das nicht genug. Unterdessen errichtet das Militär Zementbarrikaden um das Innenministerium und alle bereiten sich darauf vor, dass die Kämpfe wieder losgehen.
Ich laufe von den dunklen Gaswolken von Tahrir in die hell erleuchteten Straßen von Kairos Innenstadt, wo das Leben so ist wie immer. Die Erfahrung ist surreal. Keiner stirbt, wirft mit Steinen und feuert Tränengas, aber dennoch ist diese Normalität eng damit verbunden, was in den paar dunklen Gegenden Kairos nur ein paar Häuserblocks weiter passiert.
In Straßen wie Monsour oder Mohammed entscheidet sich das Schicksal dieses Landes—in den Händen einiger weniger, rauflustiger Jugendlicher, die ihren unmöglichen Traum nicht aufgeben: die mächtigste Institution des Landes mit ihren dreckigen und rußverschmierten Händen niederzureißen.

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