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Flüchtlinge in Deutschland

Der „lebensgefährliche“ Alltag in der Refugee-Schule

In der von Flüchtlingen besetzten Gerhart-Hauptmann-Schule organisieren sich die Asylsuchenden selber gegen Drogendealer und Kriminelle. Polizei und Feuerwehr haben das sogenannte „Haus der Gesetzlosen“ bereits aufgegeben.

Der Druck auf die Befürworter der „Flüchtlingsschule“ in Berlin wächst weiter, seit am Donnerstag bekannt wurde, dass die Feuerwehr erhebliche Brandschutzmängel an dem Gebäude festgestellt hat. Während die Lokalpresse die Grünen bedrängt, eine Lösung für die Flüchtlinge in „Lebensgefahr“ zu finden, versuchen Bewohner des Hauses auf eigene Faust, Ordnung in ihr Experiment zu bringen. Die Besetzung einer leerstehenden Schule in Berlin-Kreuzberg durch eine Gruppe Flüchtlinge war von Anfang an ein Politikum. Während die grüne Bezirksverwaltung beschloss, die rund 200 Flüchtlinge in der ehemaligen Gerhart-Hauptmann-Schule zu dulden, hat die Vorstellung eines „rechtsfreien Raumes“ mitten in Berlin den Innensenator Frank Henkel (CDU) wiederholt zu regelrechten „Wutreden“ hingerissen. Schützenhilfe bekommt er dabei vor allem von der BZ, die mit schöner Regelmäßigkeit Katastrophenmeldungen über das „Haus der Gesetzlosen“ veröffentlicht.

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Dass in der Schule nicht alles glatt läuft, würde keiner der Beteiligten leugnen wollen: die Open-Door-Policy der ursprünglich 200 Flüchtlinge, die die Schule als Basis für ihren Protest gegen das deutsche Asylsystem nutzen, hat dafür gesorgt, dass immer mehr Menschen hier ihr Lager aufgeschlagen haben. Keiner weiß genau, wie viele Menschen auf den 4000 Quadratmetern des riesigen Gebäudes wohnen, aber die Flüchtlinge selber gehen von bis zu 500 Menschen aus. Dazu gehören Obdachlose genauso wie ganze Roma-Familien, aber auch Dealer aus dem Görlitzer Park, deren Geschäfte immer wieder für Ärger, Polizeieinsätze und saftige Schlagzeilen in der BZ sorgen.

Turgay Ulu, der als linker Dissident aus der Türkei fliehen musste (die ganze, unglaubliche Geschichte kann man hier lesen), bezeichnet die Meldungen als „Antipropaganda“. „Natürlich haben wir Drogenprobleme, aber das ist ein gesellschaftliches Problem, nicht nur in der Schule“, erklärt er. „Und Flüchtlinge haben doch gar kein Geld, um groß Drogen einzukaufen.“ Und obwohl das SEK bei zwei Großeinsätzen sämtliche Türen in der Schule kaputtgetreten habe, seien keine nennenswerten Mengen von Drogen gefunden worden. Problematischer als die sporadischen Auseinandersetzungen sind die strukturellen Probleme: Bei minus 12 Grad müssen die Bewohner aufpassen, dass ihnen Heizungen nicht platzen, gleichzeitig ist die Schule so überbelegt, dass jetzt sogar in der vor ein paar Monaten noch leeren Aula Matratzen liegen. Selbst die dem Flüchtlingsprotest grundsätzlich wohlwollend gesinnte grüne Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann bezeichnete das Projekt Refugee-Schule im November als „gescheitert“.

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Jetzt wollen die Flüchtlinge selber dafür sorgen, dass sie nicht völlig die Kontrolle über ihren Protest verlieren. „Jeder, der Hilfe braucht, ist hier willkommen“, erklärt mir Jalal aus dem Sudan am Rande eines Plenums am Donnerstagabend. Aber man will auch sichergehen, dass wirklich nur Bedürftige hier leben. Die Drogendealer aus dem Görlitzer Park zum Beispiel möchte man raushalten. „Wir wollen nicht, dass diese schlechten Menschen kommen“, erklärt mir Ruth aus Zimbabwe. Ein aufgebrachter Bulgare erzählt am Mikrofon, er habe einen Deutschen mit einer Schusswaffe durch die Aula spazieren gesehen. „Hier schnüffeln dauernd Leute rum, die wir gar nicht kennen“, bestätigt Ruth.

Deshalb hat eine Initiative des grünen Baustadtrates Jürgen Panhoff, der eine private Sicherheitsfirma am Eingang zur Schule Wache schieben lassen will, Gefallen bei den Versammelten gefunden. Aber weil mit dem Wachmann der Sicherheitsfirma immer ein Vertreter der Flüchtlinge am Tor sitzen soll, muss ein Schichtdienst organisiert werden. Und weil fast alle Bewohner des Hauses gegen ihre Residenzpflicht verstoßen, wollen sie keine Papiere bei sich tragen, mit denen man sie identifizieren könnte. Vorgeschlagen werden deshalb Bändchen an den Handgelenken, die einen als echten „Schulbewohner“ ausweisen, aber auch Visitenkarten, auf denen nur ein Foto und der Vorname des Trägers gedruckt sind. Diese Fragen zu klären, wird keine leichte Aufgabe. In dem Plenum anwesend waren nur um die 30 Flüchtlinge und Roma, und niemand hat auch nur ansatzweise einen Überblick, wer überhaupt gerade im Haus lebt. Vom obdachlos gewordenen algerischen Waisen im vierten Stock bis zu den Roma-Familien im zweiten haben sich Hunderte Schicksale hier versammelt, die alle ihre eigenen Probleme mitgebracht haben. Glücklich ist hier keiner, aber alle haben sie eins gemeinsam: Sie wollen bleiben, bis sie ihre Ziele erreicht haben. Und sie wollen ihre Probleme selber lösen. „Wir sind alle hier, weil wir etwas verloren haben. Wir kennen einander nicht, aber wir lernen uns hier in der Schule kennen“, sagt Abraham, ein Nordafrikaner mit ruhiger Stimme in die Runde. „Wir haben alle andere Probleme. Aber wenn wir uns selbst organisieren, dann können wir diese Probleme lösen.“ Die Zuhörer klatschen, viele nicken sich entschlossen zu.

Fotos: Daniel Hofer