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VICE: Welche Faktoren gefährden junge Muslime für eine Rekrutierung durch Gruppen wie den Islamischen Staat?MOTHERBOARD: „Kein Staat kann seinen Geheimdiensten vertrauen"—William Binney im Interview
Mubin Shaikh: Wir haben es mit einer sozialen Bewegung zu tun. Es ist nicht nur eine terroristische Gruppe. Und soziale Bewegungen haben kollektive Beschwerdehaltungen. Der Grund, warum diese Beschwerden solchen Anklang finden, ist der, dass sie auf Tatsachen basieren. Sie sind vielleicht nicht völlig faktisch und sie sind dafür vielleicht von ihrer Weltsicht eingefärbt, aber die Wahrheit ist, wenn sie sagen, ihre Beschwerde gelte der westlichen Außenpolitik, vor allem dem Bombardement islamischer Länder—dann haben sie damit nicht Unrecht.Als ich 1995 da drinsteckte, sahen wir uns Videos [mit dschihadistischer Propaganda] an, und als es DVDs gab, sahen wir uns DVDs an. Aber die modernen sozialen Netzwerke haben all das exponentiell beschleunigt. Du sitzt vor deinem Fernseh- oder Computerbildschirm, du siehst diese Bilder wieder und wieder—es traumatisiert dich. Deine Augen werden überwältigt von Bildern, die Tod, Zerstörung, Mord, Folter und Unterdrückung [von Muslimen] zeigen.
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Isolation und soziale Ausgrenzung. Der Kontext ist in Nordafrika anders als in Europa. In Europa ist es viel schlimmer, besonders in Frankreich. Frankreich hat in Nordafrika kolonisiert, vor allem Algerien. Meist können Kolonisten die von ihnen kolonisierte Bevölkerung nicht sonderlich gut in ihre eigene Gesellschaft integrieren. Also [gibt es] sehr hohe Arbeitslosigkeit, kaum Perspektiven—das ist es, worauf es letztendlich wirklich ankommt. Es ist nicht so, dass Armut Terrorismus erzeugt, aber was ist Armut denn anderes als ein Mangel an Perspektiven? Für alle, die diesen Mangel haben, stellen die kriminelle Unterwelt und solche Dinge die einzigen Optionen dar. Es kann bei den meisten Jugendlichen unter diesen Bedingungen sehr schnell passieren, dass sie sehr gefährdet für die Rekrutierung durch gewalttätige Extremisten sind. Und es ist kein Zufall, dass Frankreich die höchste Anzahl ausländischer Kämpfer in Syrien hat.
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Meine Taktik sah bisher so aus, dass ich mich mit diesen Individuen einzeln persönlich auseinandersetze, und ich haben einen Ansatz, den ich „für Islam, gegen Terrorismus" nenne. Wir sagen ganz deutlich, dass die islamischen Quellen niemals Gewalt gegen Zivilisten in der Öffentlichkeit gutheißen. Es gibt einfach keine Ausnahme zu dieser Regel. Es ist eindeutig verboten.Aber der Islamische Staat selbst und auch [Islamkritiker] wie die „Neuen Atheisten", zitieren Koranstellen wie Sure 9:5, wo es heißt: „tötet die Heiden".
Ja, ich finde es ironisch, dass ISIS und Leute wie die Neuen Atheisten, oder Muslimenfeinde, dieselben Zeilen auf genau dieselbe Art zitieren. Sie sagen: „Der Islam ist terroristisch, und dieser Vers beweist es." Also erinnere ich sie daran, dass ich auch an dieses Zeug glaube. Ich habe früher auch Verse nach Vorliebe ausgewählt und falsch zitiert, wie diese beiden Seiten es tun. Bei Sure 9:5 habe ich also damals dasselbe gesagt. Ich habe gesagt: „Sieh mal, in dem Vers heißt es: ‚Töte die Kuffar, wo auch immer sie sind.' Nur steht das da so gar nicht. Ich meine, das ist Teil eines längeren Verses, und in diesem Satz heißt es eigentlich „al-Muschrikin", es geht also um Polytheisten. Als der Gelehrte in Syrien mich deradikalisieren wollte, sagte er: „Sag mir, fängst du normalerweise an, Suren ab Vers 5 zu lesen? Vielleicht solltest du mit Vers 1 anfangen. Ich weiß nicht, ist nur ein Vorschlag."
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Manchmal funktioniert es, wenn ich diese Botschaft teile, und manchmal nicht. Da ich als Geheimdienstmitarbeiter bekannt bin, denken sie: „Oh, dieser Typ arbeitet noch für den CSIS." Ich habe diese Perspektive: „Ich habe schon mit Typen wie dir zu tun gehabt, und ich will nicht mit ansehen, wie du im Strafjustizsystem landest." Und es ist komisch, denn ich sehe mich selbst in ihnen. Manchmal ist es wie ein Spiegelbild. Manchmal reden sie genauso—sie sind sehr wütend und sehr frustriert. Sie sind überzeugt, dass es einen Krieg im Islam gibt und sie tun nichts weiter, als sich all das negative Zeug reinzuziehen, das es da draußen gibt. Ich verstehe also, dass ich die Meinung eines Jugendlichen nicht von einem Tag auf den anderen ändern kann. Aber ich kann … ich will nicht sagen, ich kann „Zweifel säen". Ich sage dazu „Wahrheit säen", damit sie irgendwann im Leben vielleicht auf etwas stoßen, das sie veranlasst, ihre Denkweise nochmal zu hinterfragen, wie es bei mir eben auch der Fall war.Jedes Mal, wenn es einen Terroranschlag gibt, ob der 11. September oder Paris, wird das Leben für Muslime im Westen ein Stück schwerer. Meinst du, das gehört zur Strategie des Islamischen Staats?
Das ist definitiv ein absichtlicher Teil ihrer Strategie. Sie haben ein Manifest namens „Black Flags from ROME" veröffentlicht, in dem es heißt, sie würden „die Grauzone der Koexistenz" eliminieren und Muslimen das Leben schwermachen, mit Milizen gegen Muslime vorgehen, damit sie noch isolierter sind, sie an den Rand drängen und so wütend machen, dass sie gewalttätig werden. Das ist ihr erklärtes Ziel. Die traurige Wahrheit ist, es gibt politisch rechtsgerichtete Leute, die genauso gut Befehle des IS ausführen könnten, denn sie erledigen seine Arbeit für ihn.
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Das ist einer der Gründe, warum ich meine Lebensgeschichte als einen Schutzfaktor bezeichne. Der Grund, warum ich nicht zur Gewalt übergegangen bin, ist der, dass ich beide Eltern hatte. Es gab natürlich während meiner Teenagerzeit Spannungen, aber wir hatten eine größtenteils positive Beziehung und ich hatte etwas religiöse Bildung, ich hatte gute Schulbildung, ich wurde nicht gedemütigt oder gemobbt. Es ist für mich also nicht überraschend, was mit diesen Typen passiert. Das sind hauptsächlich [Leute aus] gestörten Familienverhältnissen. Das ‚Abwesender-Vater-Syndrom' ist bei Jugendkriminalität aller Ethnien und Hautfarben gegeben. Das gibt es nicht nur bei einer Kultur oder Religion. Wenn der Vater nicht da ist, dann gibt es Schulschwänzen und Kriminalität.Das andere, was ihnen fehlt, ist eine gute religiöse Erziehung. Es gibt zahlreiche Interviews mit IS-Deserteuren, mit Gefangenen, die nach ihrer Gefangenschaft interviewt wurden, in denen die Leute aussagten: „Ich habe nie einen Koran gesehen. Ich habe sie nie beim Beten gesehen und sie sind zum Großteil religiöse Analphabeten." Und das ist wenig überraschend, denn sie haben bereits eine tiefsitzende Wut, bevor die Ideologie überhaupt zum Tragen kommt. Du bist also ohnehin schon wütend auf die Welt und du willst etwas finden, das dir Bestätigung gibt und diese Wut rechtfertigt.
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Es kann helfen, aber ich habe auch mitbekommen, dass bei der Senatsanhörung zum Thema Radikalisierung in Quebec [wo Montreal liegt], gesagt wurde, 75 Prozent der extremistischen Verbrechen seien nicht religiös motiviert—das waren weiße rassistische Extremisten. Ich denke, das Deradikalisierungs-Zentrum wird einen Ansatz haben, der breitgefächert genug ist, um all das zu untersuchen und sowohl mit Rechtsextremismus als auch religiösem Extremismus umzugehen. Wir sollten nicht einfach eine Bevölkerungsgruppe anprangern. Wenn wir wirklich ernsthaft daran interessiert sind, etwas gegen extremistische Gewalt zu tun, dann dürfen wir keine Gruppe ausschließen, die in diese Kategorie gehört.Du hast schon als Agent für den kanadischen Geheimdienst gearbeitet und bei der Vereitelung eines Terrorplans geholfen. Was hast du gemacht?
Ich habe bei verschiedenen Ermittlungen für den Canadian Security Intelligence Service gearbeitet. Manche davon waren auch online—ich habe in Chatrooms nach Rekrutierern und Rekrutierten geschaut und in diesem Kontext Bedrohungen identifiziert. Dabei war ich also vor Ort, im Sinne der Human Intelligence, und habe Gruppen infiltriert und über die Aktivitäten der Leute berichtet. In vielen Fällen habe ich damit auch Leute entlastet, denen fälschlich extremistische Aktivitäten vorgeworfen wurden.Hat das deiner Glaubhaftigkeit in deiner Gemeinde geschadet?
Die kanadische Öffentlichkeit und die muslimische Gemeinde haben allgemein die Augen vor der Radikalisierung der muslimischen Jugend verschlossen. Wir konnten uns nicht vorstellen, dass es hier in Kanada geschehen könnte, denn das ist so ein großartiges Land, wir sind so tolerant und gastfreundlich. Guten Menschen passiert doch nichts Schlechtes, oder? Aber das tut es, und selbst in den tolerantesten Gesellschaften gibt es Menschen, die entrechtet wurden und die sich an eine Ideologie hängen, die ihnen ein Ziel und ein Gefühl der Zugehörigkeit und Identität verleiht. Da können wir nicht mithalten und deswegen müssen wir damit umgehen. Ich verstehe diese Besatzungsmentalität, die in der muslimischen Gemeinde herrscht. Ich denke, das erklärt auch, warum so viele nicht wahrhaben wollten, was im Fall der Toronto 18 passiert ist. Es wurde viel Fehlinformation veröffentlicht. Ich wurde beschuldigt, Leute angestiftet zu haben, was völlig unmöglich ist, weil sie den Plan schon gemacht hatten. Sie hatten schon den Ort für ihr Trainingslager ausgesucht und die ganzen Teilnehmer eingeladen. Das ist alles passiert, bevor ich geschickt wurde, um die Gruppe zu infiltrieren.Ich habe durch eine gerichtliche Dokumentenfreigabe erfahren, dass der CSIS all diese Dinge schon 12 Tage lang wusste, als er mich einsetzte. Es ist also unmöglich, dass hier irgendwer angestiftet wurde. Aber ich muss dazu sagen, dass sieben Leute aufgrund meiner Zeugenaussage freigesprochen wurden. Die Regierung wollte sie als von al-Qaida ausgebildete Profis darstellen, aber das waren sie nicht. Sie waren stümperhafte Amateure, die sich zu viel vorgenommen hatten. Ja, sie hatten diese großen Vorstellungen davon, das Parlamentsgebäude zu stürmen und Abgeordnete zu entführen und zu enthaupten, aber sie hatten keine Möglichkeit, diesen Plan auszuführen.Die muslimische Gemeinde versteht all das heute. Ihnen ist klar geworden: „Wir werden unsere Kinder verlieren. Und wir werden jedes Mal zur Verantwortung gezogen werden, wenn es einen Anschlag gibt. Wir werden immer wieder sagen müssen: ‚Der Islam hat nichts mit Terrorismus zu tun.'" Aber jetzt müssen Muslime in dieser Hinsicht einen Schulterschluss machen und verstehen, dass wir an der vordersten Front dieser Sache sind, dass wir für beide Seiten die ersten Opfer sind und dass wir diejenigen sind, die das Ganze besser lösen können als irgendjemand sonst.