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Deutsche Musikstreamingdienste sind voller Nazi-Musik

Deezer und WiMP bieten das Horst-Wessel-Lied an. Bei Amazon, Ampya und Simfy gibt es den SS-Führereid mit Industrial-Kulisse, bei Spotify findet man Nazi-Propagandajazz. Ein paar Leute bei deutschen Musikdiensten sollten sich mal Gedanken machen.

Immer wieder haben deutsche Musikdienste Ärger mit indizierten Stücken: Kurz nach dem Deutschlandstart von Spotify war das verbotene Horst-Wessel-Lied, die Parteihymne der NSDAP, in verschiedenen Versionen verfügbar. Nach Berichten wurde es umgehend gelöscht. Amazon und iTunes hatten das schon 2011 getan, als das LKA Ermittlungen aufgenommen hatte.

Im Vergleich zu anderen Anbietern hat sich Spotify hier vorbildlich verhalten, ähnlich Google Play und der ProSieben/Sat1-Dienst Ampya. Anders dagegen WiMP, Deezer oder Sonys Plattform Music Unlimited: Sie bieten das Album „Märsche und Soldatenlieder der Wehrmacht Vol. 2“ immer noch an.

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Man findet darauf nicht nur das Horst-Wessel-Lied, sondern auch die erste Strophe des Deutschlandlieds („Deutschland über alles“). Auch wenn die Server eventuell in anderen Ländern liegen: Sobald man in Deutschland einen Musikdienst abonnieren kann, unterschreibt man deutsche AGBs, die sich an deutsches Recht zu halten haben.

Bei der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien erklärt man mir, dass es bisher noch keine Beschwerden zu rechtsradikaler Musik auf Streamingportalen gab.

Simfy, der Vorreiter der deutschen Streamingdienste, hat das Horst-Wessel-Lied erst kürzlich aus dem Programm genommen, weil sich ein User auf der Facebook-Seite beschwert hatte:

Doch es gibt immer noch genug braunes Material, das auch Simfy weitere Probleme bereiten könnte. Ich nenne nur ein Beispiel: Die Martial-Industrial-Band Sturmführer benutzt auf ihrem Album Eisenmutter Aufnahmen aus der NS-Zeit, zum SS-Führereid laufen hier Industrial-Drums („Allegiance“).

Sowohl bei

Simfy, Ampya als auch Amazon gibt es das Material. Es steht laut Bundesprüfstelle nicht auf dem Index, aber daraus können wir nur eine Sache folgern: Je mehr Musikdienste es gibt, desto mehr unkontrolliert verfügbaren braunen Mist gibt es. Und so sieht eine Neonazi-Band aus, wenn sie zwar „zur Zeit leider nicht abspielbar“ ist, aber immer noch im Katalog steht: Ziemlich alleine steht Deezer mit einer Platte da, auf der u.a. das Musikkorps der Leibstandarte-SS Adolf Hitler zu hören ist, wenigstens mit dem Verweis „Strictly for Educational Use“—anderen Diensten scheint selbst das zu heiß zu sein:

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Anscheinend liegt das Problem nicht bei den Streamingdiensten, sondern bei den Labelkatalogen, aus denen sie sich bedienen—irgendjemand an zentraler Stelle sollte sich da mal Gedanken machen. Ich fürchte nur, dass es bei all dem Gewirr an Streaming- und Downloadportalen keine zentrale Stelle gibt. Womöglich müsste jeder Dienst einen Praktikanten für die reizvolle Aufgabe einsetzen, den ganzen Tag nach verbotenen Inhalten zu stöbern.

Das perfideste Beispiel, das ich gefunden habe, ist eine von Joseph Goebbels persönlich ins Leben gerufene Bigband, die während des Zweiten Weltkriegs Swing mit Propagandatexten für das britische Radiopublikum aufnahm. Offizieller Jazz unterm Hakenkreuz—das klingt erstmal konfus.

Jazz wurde in Nazideutschland als „Negermusik“ verdammt und verfolgt (auch wenn das Schild „Swing tanzen verboten“ eine spätere Erfindung ist). Doch Goebbels benutzte Swing-Hits, um Churchills Gefolgschaft zu demoralisieren. Für Charlie and his Orchestra ließ er die besten Jazzer des Reichs rekrutieren. Die Band spielte aktuelle US-Charterfolge, wobei sie sich meistens eine Strophe lang an das Original hielt—danach ging Sänger Karl „Charlie“ Schwendler in Tiraden gegen Churchill, Roosevelt, Stalin und die Juden über.

Unter Charlie and his Orchestra findet man das Material bei Spotify und anderen Streamingdiensten, teilweise brechen die Stücke vor den propagandistischen Passagen einfach ab. Aber nicht immer. Vollständig kann man zum Beispiel die antisemitische Version des Musical-Hits „Makin’ Whoopee“ anhören. Der Originaltext stammt von einem jüdischen Autor, Gus Kahn. Die Propagandaversion münzt ihn zu einem höhnischen Manifest aus der Sicht der amerikanischen Juden um, die angesichts des Krieges neue Einnahmequellen wittern: Another war
Another profit
Another Jewish business trick
Another season
Another reason
For makin’ whoopee Washington is our ghetto
Roosevelt our king
Democracy is our motto
Think what a war can bring Falls ihr nun schlechte Laune bekommen habt, tröstet euch damit, dass die Originalversion irgendwie doch besser klingt. Vor allem, wenn sie Frankie Boy singt:

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Wir müssen wohl keine Angst haben, dass sich Neonazis zu Swing-Abenden treffen, zu antisemitischem Jazz tanzen und den „Swing Heil“-Gruß der Swing-Jugend umfunktionieren. Die rechte Musikszene hat zwar ein erstaunliches Potenzial, schwarze Subkulturen zu adaptieren, aber das wäre bei den Stücken von Charlie and his Orchestra recht kompliziert: Sie haben weitaus mehr als vier Akkorde.

Doch dass dieses Material frei zugänglich ist, widerspricht offensichtlich Spotifys Erklärung, Inhalte, „die geeignet sind, in irgendeiner Weise Feindseligkeit zu erzeugen – sei es aus rassistischen, religiösen oder anderen Gründen“ nicht zu dulden.

§86 des StGB verbietet es, Propagandamittel verfassungswidriger Organisationen zu veröffentlichen. Mit einer Ausnahme: wenn „das Propagandamittel oder die Handlung der staatsbürgerlichen Aufklärung, der Abwehr verfassungswidriger Bestrebungen, der Kunst oder der Wissenschaft, der Forschung oder der Lehre, der Berichterstattung über Vorgänge des Zeitgeschehens oder der Geschichte oder ähnlichen Zwecken dient.“ Das muss aber gekennzeichnet sein.

Übrigens bin ich nicht der Meinung, dass deutsche Streamingdienste diese Musik löschen müssen. Als historisches Dokument einer besonders raffinierten Propagandastrategie der Nazis sollte sie zugänglich sein. Aber dazu wären Hintergrundinformationen und Kommentare nötig—man denke nur an die Diskussionen, die es in Bayern um die Edition von Hitlers Mein Kampf gibt .

Bei Streamingdiensten fehlen diese Hintergrundinformationen. Die 2003 erstmals erschienene CD hat ein Booklet, das die Geschichte von Charlie and his Orchestra dokumentiert. Im Netz sieht man nur ein winziges Cover, der Übertitel „Nazihäme und -hetze im Ätherkrieg“ ist höchstens mit Mühe lesbar, das Jahr der Originalveröffentlichung fehlt.

Es gibt zwar Booklet-Apps bei Spotify, aber sie decken längst nicht alle Veröffentlichungen ab. In Fällen, wo Musik historisch eingeordnet werden muss, hat dieses System eine eklatante Schwachstelle. Ähnlich sieht es bei iTunes aus.

Zu den Hauptkritikpunkten an Streamingdiensten—mangelnder Datenschutz und die schlechte Bezahlung der Künstler—kommt ein neuer hinzu: die Blindheit gegenüber fragwürdigen Inhalten.