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Dieser Uhrmacher hat verschlafen, wie der Islamische Staat seine Stadt übernommen hat

Wir haben mit einem Mann aus dem irakischen Makhmur gesprochen, der die Evakuierung seiner Stadt verschlafen hat und dann als einziger verbliebener Bewohner sehr argwöhnischen IS-Kämpfern gegenüberstand.

Als Mohammed Abu Ali am 8. August ins Bett ging, lebte er noch in Makhmur, einer hauptsächlich von Kurden bewohnten Stadt nahe der Grenze der Autonomen Region Kurdistan im Irak. Als er am nächsten Tag aufwachte, lebte er in Makhmur, einer verlassenen Stadt, in der die Terrororganisation IS das Kommando übernommen hatte.

Ihm war beim Zubettgehen nicht bewusst, dass der Islamische Staat gerade dabei war, sich Makhmur zu nähern. Kurdische Peschmerga-Kämpfer konnten lange genug Gegenwehr leisten, um die Stadt zu evakuieren. Danach zog sich die Peschmerga ebenfalls zurück. Viele Bewohner der Stadt suchten in den angrenzenden Bergen Zuflucht—eine Taktik, die die oft verfolgten Kurden für gewöhnlich anwenden. Anderen flohen in ihren Autos in Richtung Erbil, der Hauptstadt der Kurden.

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Der allein lebende Uhrmacher Abu Ali bekam von alledem nichts mit.

Als er aufwachte, schaute er sich einen „schönen ägyptischen Film“ an und werkelte an seiner Klimaanlage herum. Stunden vergingen. Alleine zu Hause wurde er unwissend zum letzten verbliebenen Bewohner von Makhmur und lebte jetzt unter IS-Herrschaft. Nachdem die Stadt jetzt wieder unter der Kontrolle der Kurden ist, stattete VICE News Abu Ali einen Besuch ab und interviewte ihn zu den Geschehnissen.

VICE: Was war das erste Anzeichen dafür, dass etwas faul war?
Abu Ali: Draußen hörte ich Geräusche, aber ich dachte, das sei die Peschmerga. Als [gegen 18:00 Uhr] die Zeit für das Abendgebet kam, machte ich mich fertig und wusch mich. Aber der Aufruf zum Gebet kam zu spät. Da wusste ich, dass etwas nicht stimmte.

Hattest du irgendeine Ahnung, wie ernst die Lage war?
Nein, gar nicht. Ich entschied mich dazu, einfach in meinem Haus zu beten, aber dann rief die Moschee zum Gebet auf. Das war nicht die Stimme des Scheichs, der jeden Tag zu hören war, also ging ich zur Moschee, um nachzusehen, was los ist. Auf dem Weg sah ich dieses riesige Loch in der Straße und dahinter den großen Laster, bestückt mit Waffen. Es stiegen Leute aus, die mir befahlen, meine Hände hochzunehmen und zu ihnen zu kommen. Das waren IS-Kämpfer. Sie fragten mich, ob ich ein Terrorist sei, und ich sagte: „Nein, nein. Ich bin nichts dergleichen!“ Dann fragten sie, ob ich ein ihnen feindlich gesinnter Kämpfer aus Mosul sei. Ich sagte zu ihnen: „Nein, ich bin allein! Ich bin nichts dergleichen! Niemand ist bei mir!“ Ich erzählte ihnen, dass ich nur Uhren repariere und einen Laden besitze.

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Was passierte, nachdem sie dich angehalten haben?
Nun, sie fragten, ob ich bewaffnet sei, worauf ich antwortete, dass ich einen Uhrenladen besitze. Zuerst glaubten sie mir nicht, aber dann beschrieb ich ihnen, wo sich mein Laden befindet und sie sagten: „Zeig ihn uns.“ Sie wollten, dass ich ihnen beweise, dass das mein Laden ist, also gab ich ihnen meine Schlüssel und die IS-Kämpfer sperrten den Laden auf. Dann glaubten sie mir und ich fühlte mich besser.

So einfach ging das?
Als sie reingingen, sahen sie ein altes Foto von mir, auf dem ich noch langes, wildes Haar habe. Das machte anscheinend einen komischen Eindruck auf sie, denn sie fragten mich: „Ist das ein Monster?“ Ich sagte darauf: „Nein, das bin ich, als ich noch jünger war.“ Dann schlossen sie die Tür wieder ab und gaben mir meine Schlüssel zurück. Sie nahmen mich mit zur Moschee—darin befanden sich nur Mitglieder vom IS.

Wann wurde dir klar, dass du der einzige noch übrig gebliebene Bewohner von Makhmur warst?
Erst als wir zur Moschee gingen. Direkt vor der Moschee waren mindestens 25 [Kämpfer] und drei Autos mit Waffen und einem Raketenwerfer. Als ich rein ging, waren alle Augen auf mich gerichtet. Sie fragten sich dann: „Wer ist das? Wer ist das?“

Derjenige, der mich festgenommen hatte, erzählte ihnen darauf, dass ich der letzte Verbliebene in Makhmur war. Sie fragten, ob ich bewaffnet sie, was ich verneinte. Ich sollte ihnen dann zeigen, wie man das Licht anschaltet und anschließend mit ihnen beten. Alle warteten nur darauf, mit dem Beten anfangen zu können. Ganz vorne stand der Scheich, hinter ihm filmte jemand alles mit. Wir fingen an zu beten und ich stand mitten unter ihnen.

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Dachtest du, dass sie dich töten?
Nein, warum hätten sie das tun sollen? Ich bin Moslem und Kurde. Daraus machte ich kein Geheimnis und der Scheich sagte, dass ihnen das egal sei. Er meinte zu mir: „Wenn du Moslem bist und Allah zu deinem Gott und Mohammed zu deinem Propheten erklärst, warum sollten wir dich dann umbringen? Du bist kein Feind.“

Was passierte als Nächstes?
Er fragte mich, was ich wolle, und ich sagte ihnen, dass ich einfach nur in Sicherheit sein will. Sie fragten, ob ich Hunger hätte, was ich aber verneinte. Sie meinten: „Wenn du deinen Leuten in die Berge folgen willst, dann kannst du das tun.“ Ich wollte aber einfach nur nach Hause. Der Scheich sagte: „Geh nach Hause und bleib dort.“ Auf dem Weg dorthin rief mir ein IS-Mitglied zu: „Geh nicht nach draußen!“

Danach bist du einfach nach Hause gegangen?
Ja, das bin ich. Ich habe das Haus zwei Tage lang nicht verlassen. Dann hörte ich Gewehrschüsse und Bombenexplosionen. Ich wusste nicht, wer da schießt, ob nun Peschmerga oder IS. Ich blieb drinnen, bis ich hörte, wie draußen Leute schrien und weinten. Ich wusste immer noch nicht, wer das jetzt war, also schaute ich zur Tür raus und sah einen Mann, der etwas auf Kurdisch rief. Danach bin ich nach draußen auf die Straße und sah die Soldaten der Peschmerga.

Warst du glücklich, als du sie sahst?
Natürlich. Ich rannte ihnen entgegen und küsste und umarmte sie. Ich konnte mich jetzt endlich wieder entspannen und sicher fühlen.

Waren die IS-Kämpfer Iraker?
Ja, alle. Ich kenne jeden Dialekt dieser Gegend, sie kamen von hier.

Glaubst du, dass der Islamische Staat versucht, noch einmal zurückzukommen?
Nein, so Gott will, kommen sie nicht zurück, denn die Peschmerga und die Kurden sind stark. Der IS hat versucht, die Stadt zu übernehmen, und sie wurden wieder vertrieben. Jetzt bin ich auch bereit, eine Waffe zu tragen und zu kämpfen. Für meine Stadt kämpfe ich bis in den Tod.