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Erst austricksen, dann aushungern—wie der Berliner Innensenator das Flüchtlingsproblem lösen will

Wie Frank Henkel mit dem Flüchtlingsprotest umgeht, zeugt entweder von krasser Inkompetenz—oder von dem Hang, wehrlose Menschen mit Gauner-Methoden über den Tisch zu ziehen.
Die Flüchtlinge auf dem Dach des Hostels in der Gürtelstraße. | Fotos von Jermain Raffington

Während neun Flüchtlinge mittlerweile den sechsten Tag ohne Lebensmittel auf dem Dach eines Hostels in der Berliner Gürtelstraße ausharren, lernen die Berliner ein paar neue Seiten an ihren gewählten Volksvertretern kennen. Die Flüchtlinge sind vor allem deshalb auf dem Dach, weil sie sich vom Berliner Senat betrogen fühlen, mit dem sie im April ein „Agreement“ abgeschlossen hatten. Während die Flüchtlinge ihren Teil eingehalten und das Protestcamp am Oranienplatz selbst abgerissen hatten, hat der Senat entscheidende Punkte der Vereinbarung nicht erfüllt. Laut einem Artikel in der taz ist jetzt auch klar, warum: Innensenator Frank Henkel (CDU) hält das Agreement sowieso für ungültig, da er es nicht selbst unterschrieben hat.

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Das geht zumindest aus einem Rechtsgutachten hervor, dass der Innensenator in Auftrag gegeben hat. Darin steht, dass die Einigung formal ungültig sei, weil sie von der Integrationssenatorin Dilek Kolat (SPD) unterschrieben wurde, in deren Zuständigkeitsbereich die in der Einigung enthaltenen Leistungen aber nicht fallen. Auf der Pressekonferenz, auf der die Einigung damals vorgestellt wurde, hat Henkel laut taz aber nichts davon erwähnt, stattdessen habe er verkündet, „der Senat“ (der ihn mit einschließt) habe die Einigung erzielt, und die CDU könne damit „sehr gut leben“.

Für sein Schweigen kann es eigentlich nur zwei Gründe geben: entweder er hat damals selbst nicht gewusst, dass der Vertrag wegen des Formfehlers ungültig ist. Dann wäre das Erstens erschreckend inkompetent, es wäre außerdem auch enorm unsympathisch, den Flüchtlingen jetzt die Hilfe zu verweigern, weil man damals selber einen Fehler gemacht hat. Die Alternative ist allerdings noch unsympathischer: Wenn Henkel wusste, dass der Vertrag ungültig ist, dann hat er auf der Pressekonferenz gelogen, Dilek Kolat ins offene Messer laufen lassen und mutwillig über 500 Menschen betrogen, die zu den wehrlosesten der Welt gehören. Ein deutscher Landespolitiker, der eine Gruppe Flüchtlinge mit einer „Finte“ austrickst—viel niedriger kann man nicht sinken.

Nur schade für den Innensenator, dass ein paar dieser betrogenen Vertragspartner doch nicht so wehrlos sind, wie er vielleicht gehofft hatte. Schon die schiefgelaufene Räumung der Gerhart-Hauptmann-Schule war ein direktes Resultat des Misstrauens der Schulen-Besetzer, die die fehlende Einhaltung des Agreements genau beobachtet hatten. Jetzt haben sich neun jener Flüchtlinge auf dem Dach des Hostels verschanzt, die am Montag sang- und klanglos ausziehen sollten, um ihr Glück in der Obdachlosigkeit zu versuchen.

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Der Umgang der Polizei mit diesem offen zur Schau getragenen Ungehorsam ist dementsprechend gnadenlos: die Flüchtlinge dürfen kein Essen erhalten, solange sie auf dem Dach sind. Sie dürfen seit drei Tagen weder von Anwälten, noch von Unterstützern oder Priestern besucht werden. Journalisten dürfen nicht mal durch die Polizeiabsperrung, um vor das Haus zu kommen, von Gesprächen mit den Flüchtlingen ganz zu schweigen. Ein Polizist begründete die Maßnahme vor Ort damit, dass das Auftauchen von Journalisten die Besetzer zu „waghalsigen Manövern“ anstiften könnte, die ihr Leben in Gefahr bringen würden. Das Aushungern stellt anscheinend keine Gefahr dar. Als am Sonntagabend ein paar Unterstützer versuchten die Polizisten zu überreden, sie mit Essen auf das Dach zu lassen, wurde ihnen scherzend erwidert, sie sollten die Flüchtlinge doch einfach zu sich nach Hause einladen.

Henkel steht als oberster Dienstherr der Berliner Polizei zweifellos voll hinter diesen Aktionen. Ob es ihm gelingt, durch derlei Maßnahmen in Berlin „aufzuräumen“, wie er uns auf dem Plakat verspricht, ist fraglich. Nach der Ohlauer Straße in Kreuzberg im Juni ist es jetzt die Gürtelstraße in Friedrichshain, die seit schon fast einer Woche aussieht wie Gorleben zu Castor-Zeiten. Am Montag besetzten Aktivisten mit Musikinstrumenten kurz das Foyer von Dilek Kolats Arbeitsplatz, der Senatsverwaltung für Arbeit und Integration.

Am Sonntagabend zog eine Demonstration mit ungefähr 1000 Teilnehmern quer durch Friedrichshain. Den Gästen in den Kaffees schallte lautstark „Kein Mensch ist illegal, Bleiberecht überall!”, aber auch „Mord, Folter, Deportation, das ist deutsche Tradition!” entgegen. Angesichts des eiskalten Rechtspositivismus des Berliner Innensenators und der Aushungerungstaktik der Polizei muss man wohl langsam fürchten, dass die Folter wieder im Schwange ist.