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The True Crime Issue

Meine Zeit mit dem Touristen-Killer von Thailand

Sie betäubten die Opfer mit Drogen, um sie dann zu schlagen, mit Benzin zu übergießen und bei lebendigem Leibe zu verbrennen, bevor sie ihnen schließlich die Kehle aufschlitzten.
Collage des Touristen-Killers Charles Sobhraj
Collage von Matthew Leifheit 

Eines Nachts im Winter 1983, kurz nachdem ich nach Bangkok aufgebrochen war, um dort an einem Film zu arbeiten, erzählte mir ein Freund von einem Serienmörder, der als der „Bikini-Killer" bekannt war, ein gutaussehender, charismatischer, gelegentlicher Juwelendieb namens Charles Sobhraj, der in den 1970ern von Thailand aus ope­rierte. Mein Freund kannte ein Pärchen aus Formentera, die früher Heroin aus Asien geschmuggelt hatten und dann beide unabhängig voneinander von ihm in den Tod gelockt worden waren. Sie waren zwei von zahlreichen westlichen Touristen, die Sobhraj auf dem sogenannten Hippie Trail ins Jenseits befördert hatte. Sobhraj, der den unmoralischen Lebenswandel der nach Spiritualität dürstenden Reisenden verachtete, raubte sie bis auf den letzten Pfennig aus.

Da sich die Produktion verzögerte, war ich in Bangkok über mehrere Wochen mir selbst überlassen. Es war eine verwirrende, stinkende, mit Verkehr verstopfte Stadt voller bettelnder Mönche, Teenagergangs, Motorräder, Tempel, mordender Zuhälter, furchterregender Prostituierter, schmieriger Bars, Stripclubs, Straßenverkäufer, Horden Obdachloser und unglaublicher Armut. Nachdem ich herausgefunden hatte, dass Captagon, ein starkes Amphetamin, hier legal über die Ladentheke erhältlich war, saß ich täglich 12 bis 14 Stunden ohne Unterbrechung an meiner Schreibmaschine und spuckte ein Gedicht, einen Tagebucheintrag, eine Geschichte und einen Brief an Freunde nach dem anderen aus. Bei Dinner-Partys britischer und französischer Auswanderer, die seit der Tet-Offensive in Thailand lebten, schnappte ich noch mehr Gerüchte über Sobhraj auf. Er sprach sieben Sprachen. Er war in fünf Ländern aus dem Gefängnis ausgebrochen. Er hatte sich als israelischer Forscher, libanesischer Textilhändler und 1.000 andere Dinge ausgegeben, während er den Süden Asiens nach Opfern durchkämmte, die er unter Drogen setzte und ausraubte. Reisende, die ihn bei einem Drink kennenlernten, fanden sich Stunden später in Hotelzimmern oder in fahrenden Zügen wieder—ohne ihre Pässe, ihr Geld, ihre Kameras und sonstige Wertsachen.

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In Bangkok hatten die Dinge dann düsterere Züge angenommen. Sobhraj hatte eine kanadische medizinische Sekretärin, die er auf Rhodos kennengelernt hatte, in eine leidenschaftliche Beziehung verwickelt. Die Frau hieß Marie-Andrée Leclerc und war dort mit ihrem Verlobten im Urlaub gewesen. Sie verließ dann ihren Verlobten und gab ihren Job auf, um Sobhraj nach Bangkok hinterher zu fliegen. Nach ihrer Ankunft ließ er sie wahlweise als seine Frau oder seine Sekretärin posieren, je nachdem wie es die Situation verlangte.

Sie fuhren im Land auf und ab, flößten Touristen Drogen ein und brachten sie dann in ihrem halbkomatösen Zustand in eine leere Wohnung, die Sobhraj gemietet hatte. Er überzeugte sie, dass die örtlichen Ärzte gefährliche Quacksalber seien und dass seine Frau, eine ausgebildete Krankenschwester, sie im Handumdrehen wieder auf den Beinen haben würde. Manchmal ließ er sie wochenlang vor sich hin siechen, während Leclerc ihnen ein „medizinisches Getränk" verabreichte, das aus Abführmitteln, Brechwurzel und dem Hypnotikum Methaqualon bestand, und Inkontinenz, Übelkeit, Lethargie und Verwirrung auslöste, während Sobhraj ihr Geld ausgab, ihre Wertsachen vertickte und an ihren Pässen herumdokterte, die er für seine Reisen brauchte.

1975 lernte er in einem Park einen indischen Jungen namens Ajay Chowdhury kennen. Chowdhury zog bei Leclerc und Sobhraj ein und die beiden Männer begannen, bestimmte „Gäste" zu ermorden. Die „Bikini-Morde" waren besonders grausam—in einer anderen Liga als seine bisherigen Verbrechen. Sie betäubten die Opfer mit Drogen und fuhren sie an einen entlegenen Ort, um sie dann zu schlagen, mit Benzin zu übergießen und bei lebendigem Leibe zu verbrennen, oder sie stachen mit Messern auf sie ein, bevor sie ihnen schließlich die Kehle aufschlitzten, oder strangulierten sie halb und zerrten sie dann, noch atmend, in den Ozean.

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Sobhraj hatte auch zuvor schon Menschen getötet, wenn er ihnen versehentlich zu viele Drogen verabreicht hatte. Aber die Bikini-Morde waren etwas anderes. Sie waren sorgfältig geplant und entschieden unelegant. Sie ereigneten sich innerhalb eines seltsam kurzen Zeitraums zwischen 1975 und 1976, fast wie ein Wutausbruch, der sich über ein paar Monate entlädt und dann auf mysteriöse Weise verfliegt. Sobhraj und Chowdhury schlachteten Opfer in Thailand, Indien, Nepal und Malaysia ab. Es ist nicht bekannt, wie viele es insgesamt waren, mindestens aber acht, darunter zwei Verbrennungen in Katmandu und ein Opfer, das in Kalkutta gewaltsam in einer Badewanne ertränkt wurde.

Sobhraj wurde schließlich 1976 in Neu-Delhi verhaftet, nachdem er bei einem Bankett im Hotel Vikram eine Gruppe französischer angehender Ingenieursstudenten mit Drogen betäubt hatte. Er überzeugte sie, seine angeblichen „Anti-Diphterie-Tabletten" zu nehmen, was viele von ihnen auch an Ort und Stelle taten, worauf ihnen wenige Minuten später speiübel wurde. Der Rezeptionist des Hotels, der sich Sorgen machte, weil plötzlich über 20 Personen den Speisesaal vollkotzten, rief die Polizei. Sobhraj wurde in Neu-Delhi einer langen Liste von Verbrechen angeklagt, darunter Mord, wurde aber nur kleinerer Delikte schuldig gesprochen—die allerdings ausreichten, um ihn, wie man meinte, auf Jahre aus der Gesellschaft zu entfernen.

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1986, nach zehn Jahren brach Sobhraj mithilfe seiner Mithäftlinge und einer Gang, die er außerhalb organisiert hatte, aus dem Tihar-Gefängnis in Neu-Delhi aus. Er entkam, indem er die komplette Wachmannschaft mit einem festlichen Präsentkorb voll präpariertem Obst, Teigwaren und einem Geburtstagskuchen betäubte. Indien, das zu dieser Zeit kein Auslieferungsabkommen mit Thailand hatte, hatte dennoch, aufgrund eines zeitlich beschränktem Abkommens, einer Auslieferung nach dem Ende seiner Haft zugestimmt.

Thailand hatte Beweise für sechs Morde ersten Grades. Die Bikini-Morde hatten die Tourismusindustrie für mehr als eine Saison ruiniert und Sobhraj hatte die Polizei Bangkoks zum Narren gehalten. Viele glaubten, dass man ihn nach seiner Auslieferung erschießen würde, sobald er aus dem Flugzeug stieg.

Er floh von Delhi nach Goa, wo er in absurden Verkleidungen auf einem pinkfarbenen Motorrad durch die Gegend düste. Schließlich nahm man ihn im O'Coqueiro-Restaurant fest, während er telefonierte. Der einzige Zweck seiner Flucht war es gewesen, noch mehr Jahre aufgebrummt zu bekommen, und zwar genauso viele, wie nötig waren, um das Auslieferungsersuchen der Thais zu umgehen.

Nach Jahren sporadischen Interesses an Sobhraj wollte ich ihn nun treffen. Also schlug ich der Zeitschrift Spin 1996 vor, einen Artikel über ihn zu schreiben.

Ich kontaktierte zunächst Richard Neville, der während der Zeit von Sobhrajs Verfahren in Neu-Delhi eine Menge Zeit mit ihm verbracht hatte. Neville hatte das Buch The Life and Crimes of Charles Sobhraj geschrieben, und lebte nun in Australien. Er litt immer noch unter Albträumen über Sobhraj. „Du solltest hinfahren und deine obszöne Neugier befriedigen", sagte er mir, „und dann zusehen, dass du so weit wie möglich von ihm wegkommst und nie wieder etwas mit ihm zu tun hast."

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Als ich in Neu-Delhi ankam, war Sobhrajs zehnjährige Haftstrafe-und das Auslieferungsersuchen-fast abgelaufen. Ich zog in ein billiges Hotel und hing viel im Press Club of India am Connaught Place ab, einer beliebten Absteige für Journalisten aus dem ganzen Land. An den Wänden hingen, wie in einem Schrein, Porträts von Journalisten, die, nachdem sie den Press Club betrunken verlassen hatten, von Autos überfahren worden waren.

Meine neuen Kollegen kannten Unmengen blutrünstiger Sobhraj-Anekdoten-Geschichten seiner Gefängnisfreundschaften mit Politikern und Industriellen und von unvorstellbaren Summen, die ihm für die Filmrechte für seine Geschichte angeboten worden waren. Ein Korrespondent der Hindustan Times versicherte mir, dass ich ihn nie zu Gesicht bekommen würde. Sobhraj werde von der Presse abgeschottet und die großzügigen Privilegien, die er einst im Tihar-Gefängnis genossen hatte, waren abgeschafft worden, als die Gefängnisleitung wechselte.

Die neue Leiterin war Kiran Bedi, eine Legende des indischen Strafvollzugs. Die ehemalige Tennismeisterin wurde Indiens erste weibliche Polizistin. Sie war eine bekennende Feministin und, paradoxerweise, eine glühende Unterstützerin der rechtsgerichteten Bharatiya Janata Partei. In einer reichlich korrupten Polizei war sie auf fast fanatische Weise unkorrumpierbar und infolgedessen auf diverse „Strafposten" versetzt worden, um ihren Willen zu brechen. Da sie ihren Job aber mit einem derart geradlinigen Eifer ausführte, dass sie z. B. sogar die illegal geparkten Autos von Staatsministern abschleppen ließ, war sie zu einer Nationalheldin geworden, die ihre Chefs nicht mehr feuern konnten. Vor Bedis Übernahme galt Tihar als das schlimmste Gefängnis Indiens, was einiges heißen will. Bedi verwandelte ihre Strafversetzung in einen neuen PR-Triumph und machte aus Tihar ein Resozialisierungs-Ashram, einschließlich eines flexiblen Regimes aus Morgenmeditation, beruflicher Fortbildung und Yogastunden.

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Ich saß an einem Morgen stundenlang im Verwaltungssaal des Gefängnisses. Lustlose Soldaten liefen vorbei, gähnten und kratzten sich an den Eiern. Dann tauchte eine aufgeregte Gruppe von Ladys in Hosenanzügen und Saris auf, die eine kleine Figur in strahlend weißen Knickerbockern mit einer Kurzhaarfrisur und einem zur Faust geballten Gesicht umringte. Das war Bedi.

Ich solle mich frei fühlen, Zeit im Gefängnis zu verbringen, sagte sie. Aber, falls ich Sobhraj sprechen wolle, könne ich es vergessen. Sie würde ihren Job riskieren, wenn sie ihn mit der Presse reden ließ. Ob das nun stimmte oder nicht, es war klar, dass sie die einzige Berühmtheit auf dem Gefängnisgelände bleiben wollte. Ich fragte sie, wie es Sobhraj ging.

„Charles hat sich verändert!", erklärte sie in dem gurrenden Singsang des indischen englischen Akzents. „Durch Meditation! Er wird mit Mutter Teresa arbeiten, wenn er hier rauskommt! Jetzt kann ihn keiner sehen—er wird darauf vorbereitet, in die Gesellschaft entlassen zu werden!" Im nächsten Atemzug sagte sie, dass ich doch ein paar Monate in Indien bleiben könnte. Ich könnte hier ein sehr angenehmes Leben führen, sagte sie, wenn ich zustimmen würde, als ihr Ghostwriter zu arbeiten.

Ich fand das äußerst seltsam.

Bevor ich noch einmal Luft holen konnte, wurde ich schon noch draußen befördert und in ein knollenförmiges Auto verfrachtet, das einen Weg an der Innenseite der Mauer, die die vier voneinander getrennten Gefängnisse Tihars umschloss, entlangraste. Wir kamen bei einer Beobachtungsplattform an, wo ich an das Ende einer Schlange von Würdenträgern in festlichen Anzügen gebracht wurde. Unter uns saßen 2.000 Gefangene im Lotussitz, viele von ihnen mit farbigem Puder beschmiert. Bedi hielt eine Rede zur Feier des Holifestes, ein religiöses Hindufestival, das zu Liebe, Vergebung und Freude einlädt. Und bei dem eine Menge schmieriges Farbpulver verwendet wird. Nach der Zeremonie fuhren wir ins Büro zurück. Bedi verkündete, dass sie am nächsten Tag für ein paar Wochen zu einer Konferenz nach Europa fahren würde. Da sie aber sichergehen wollte, dass ich, ihr neuer Biograf, den bestmöglichen Eindruck des Tihar-Ashram bekam, kritzelte sie mir noch eine Erlaubnis auf ein Stück Papier, das mir freien Zutritt zu allen vier Gefängnissen gewährte.

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In den folgenden drei Wochen arbeitete ich mich jeden Morgen in einem Taxi Zentimeter für Zentimeter durch unbeeindruckte Menschenmassen und den chaoti­schen Straßenverkehr in Richtung des Tihar-Gefängnisses. Mein Passierschein wurde immer in einem höhlenhaften Sicherheitsbunker mit der gleichen argwöhnischen Genauigkeit untersucht. Jeden Tag teilte mir der diensthabende Beamte einen Begleiter zu, und ich versuchte es so zu drehen, dass ich einen der jüngeren Wärter bekam, die am entspanntesten waren und mir das meiste erlaubten, mich sogar oft allein ließen, um davonzuspazieren und mit ihren Kumpels zu rauchen und zu quatschen.

Sie zeigten mir, was auch immer ich in Tihar sehen wollte-Gemüsegärten, den Yoga- oder Computerunterricht, die mit Narzissen und Hibiskusblüten geschmückten Schreine für Shiva und Vishnu; die mit Gebetsteppichen ausgekleideten Schlafzellen; die losen Grüppchen schwatzender, über Webstühle gebeugter Frauen; eine Bäckerei voller barfüßiger Männer verschiedensten Alters, die Teig in industrielle Öfen schaufelten. Angeklagte, die seit Jahren in Gefängnissen vor sich hin vegetierten und noch immer auf einen Gerichtstermin warteten-indische Untersuchungshäftlinge, die sogenannten undertrials, sitzen die Haftstrafe für die ihnen vorgeworfenen Verbrechen oft schon ab, bevor sie überhaupt verurteilt worden sind, und falls sie freigesprochen werden, erhalten sie keinerlei Schmerzensgeld.

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Ich sah alles, außer Sobhraj. Keiner konnte mir sagen, wo er war. Aber nach drei Wochen jeweils ganztägiger Besuche hatte ich eines Nachmittags Glück: Ich hatte Zahnschmerzen. Mein Betreuer brachte mich zum Gefängniszahnarzt in ein kleines Holzhaus, vor dem an die 30 Männer darauf warteten, gegen Typhus geimpft zu werden. Mein Betreuer war dann damit beschäftigt, mit der Krankenschwester zu plaudern, die mit immer derselben Nadel in einen Arm nach dem anderen stach. Ich fragte die Männer in der Schlange, ob einer von ihnen Sobhraj eine Nachricht überbringen könne und ein Nigerianer mit einem glänzenden Perlenhalsband nahm mein Notizbuch mit und sprintete los. Mein Gesicht war noch taub von dem Betäubungsmittel, als er mir einen gefalteten Zettel in die Tasche meiner orangefarbenen Kurta schob.

Ich holte ihn erst Stunden später hervor, nachdem der junge Wärter des Prison 3 mich auf seinem Motorrad in mein Hotel zurückgebracht hatte. Sobhraj hatte mir den Namen und die Telefonnummer seines Anwalts aufgeschrieben, mit der Aufforderung, ihn noch am Abend anzurufen. Am Telefon sagte man mir, dass ich den Anwalt um Punkt neun Uhr morgens in seinem Büro im Tis-Hazari-Gerichtsgebäude aufsuchen solle.

Das Tis-Hasari-Gebäude war ein Gigant aus rotbraunem Stuck, vor dem ein Ozean aus Klägern, Bettlern und Wasserverkäufern wogte. Eine flache Schneise trennte das Grundstück des Gerichtsgebäudes von einer labyrinthartigen Hochebene aus niedrigen Betonbunkern, die als Anwaltsbüros dienten.

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Der Anwalt war ein knochenlos wirkender Mann völlig unbestimmbaren Alters. Er sagte mir, dass ich meine Kamera im Büro lassen solle. Wir liefen dann durch die Menschenmengen zu dem Gerichtsgebäude hinüber und ein paar Treppen zu einem düsteren, kastenförmigen Gerichtssaal hinauf. Ich erkannte Sobhraj in einer Schlange von Klägern, die sich zu dem Pult eines schlecht gelaunten Richters, eines Sikh in einem grellgelben Turban, vorarbeiteten, der gelegentlich einen gedankenvollen Schluck aus einer Colaflasche nahm. Der Anwalt stellte uns vor.

Sobhraj war kleiner, als ich erwartet hatte. Auf seinem graumelierten Haar trug er eine schräge sitzende, sportliche Baskenmütze. Ein weißes Hemd mit blauen Nadelstreifen, dunkelblaue Hosen, Nike-Turnschuhe.

Er war schlank und trug eine randlose Brille, die seine Augen riesig und feucht aussehen ließ. Sein Gesicht erinnerte an einen etwas heruntergekommenen Boulevardschauspieler, der einmal für sein gutes Aussehen bekannt gewesen war.

Er wartete darauf, seine Sicht auf irgendeine der trivialen Streitsachen darzulegen, die er aller Nase lang anzettelte, vor allem um für einen Tag aus dem Gefängnis zu kommen und den lokalen Zeitungen ein paar neue Schlagzeilen zu liefern. „Sie müssen draußen warten", waren seine ersten Worte an mich. „Der Anwalt zeigt Ihnen wo." Der Anwalt führte mich nach draußen zu einem Platz unter einem hohen, rechteckigen Fenster in der Fassade des Gerichtsgebäudes. Eine halbe Stunde später erschien Sobhrajs Gesicht in dem Fenster, hinter dem sich eine unbeleuchtete Verwahrungszelle befand.

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Bevor ich irgendetwas sagen konnte, bombardierte er mich mit Fragen über mich: wer ich sei, woher ich komme, wo ich studiert habe, was für Bücher ich geschrieben hätte, wo ich lebte, wie lange ich in Indien bleiben würde—ein virtueller Niagarafall gieriger Fragen über meine politischen Ansichten, meine religiösen Vorstellungen, so ich welche hätte, meine Lieblingsmusik, meine sexuellen Praktiken. Ich log bei jeder Antwort.

„Wo in Neu-Delhi wohnen Sie?", fragte er mich.

Ich murmelte etwas über das Oberoi Hotel. „Aha", blaffte er mich an. „Der Anwalt hat gesagt, Sie hätten ihn aus einem Hotel am Channa Markt angerufen."

„Das stimmt, aber ich ziehe ins Oberoi. Vielleicht schon heute Abend!", sagte ich mit Nachdruck. Ich erschrak plötzlich bei dem Gedanken, dass einer von Sobhrajs Lakaien, von denen es immer einige außerhalb des Gefängnisses gab, mir einen Überraschungsbesuch abstatten könnte und mich zu irgendeiner harmlos wirkenden Aktion verleiten würde, nach der ich mich ganz ohne Passierschein im Knast wiederfinden würde.

Dann auf einmal: „Vielleicht könnten Sie mir helfen, meine Lebensgeschichte für die Filmversion niederzuschreiben." Etwas, das sich anfühlte, als sei es so groß wie ein Pfirsichkern, klemmte mir plötzlich in der Kehle, während ich ihm sagte, dass ich nur für ein paar Wochen in Indien sei. „Ich meinte später. Wenn ich draußen bin. Sie können ja wiederkommen."

Kurze Zeit später kam Sobhraj aus seiner Zelle, er war an den Hand- und Fußgelenken gefesselt und an einen Soldaten gekettet, der hinter ihm lauerte. Er hatte noch etwas am anderen Ende des Gerichtsgebäudes zu erledigen und ich durfte neben ihm herlaufen. Genauer gesagt forderte er mich dazu auf, und die Wärter widersprachen nicht. Wir liefen im Inneren eines Rings aus Armeeangehörigen, die ihre Maschinenpistolen auf uns beide gerichtet hielten. Andere Gefangene, die im Gericht zu tun hatten, liefen einfach an der Hand ihrer unbewaffneten Wärter durch das Gebäude, aber Sobhraj war ein Sonderfall. Er war ein Serienmörder und eine echte Berühmtheit. Leute drängten sich durch den Sperrgürtel zu ihm, um ihn um ein Autogramm zu bitten.

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„Also", fragte ich ihn, während wir liefen, „es heißt ja, dass Sie bevor Kiran Bedi das Gefängnis übernahm, den Laden so ziemlich selbst geschmissen haben."

„Hat sie Ihnen gesagt, dass ich ein Buch über sie schreibe?", blaffte er mich an.

„Sie hat etwas erwähnt."

„Ich bin ein Autor. Genau wie Sie. Hinter Gittern gibt es nicht so viel zu tun. Lesen, schreiben. Ich lese sehr gern Nietzsche."

„Oh, ja. Der Übermensch. Zarathustra."

„Ja genau. Ich habe die Philosophie des Übermenschen. Er ist wie ich, er hat keine Verwendung für bürgerliche Moral." Sobhraj beugte sich mit klirrenden Ketten vor und zog ein Hosenbein hoch. „So habe ich im Gefängnis das Regime übernommen. Kennen Sie diese kleinen Mikrorekorder? Ich habe sie mir da ans Bein geheftet, sehen Sie. Und unter meine Ärmel. Ich habe aufgenommen, wie die Wärter darüber sprachen, Schmiergelder anzunehmen und Prostituierte in den Knast zu holen."

Er zeigte mir ein paar Papiere, die er in einen Plastikumschlag gequetscht hatte, den er in der Tasche seines Hemds bei sich trug.

„Das sind Papiere für einen Mercedes, die ich hier abgeben muss", sagte er und zeigte auf die offene Tür des Büros. „Das gilt als Teil meiner Kaution. Wenn ich Tihar verlasse, muss ich Geld hinterlegen."

„Und mit verlassen meinen Sie--?"

„Wenn ich da rausgehe, um für Mutter Teresa zu arbeiten." Ach du Schande.

„Ich muss Sie etwas fragen, Charles", wiederholte ich und versuchte dabei so bestimmt wie möglich zu klingen. Mir war während unserer Unterhaltung (die ich hier nur sehr verkürzt wiedergegeben habe) aufgefallen, dass Sobhraj alles, was ich ihm am Anfang unseres Gesprächs über mich erzählt hatte, zu einer Art mentalen Collage zusammengefügt hatte, und mir nun permanent Aspekte davon mit kleinen Veränderungen, als Enthüllungen über sich selbst wiedergab. Das ist eine typische Strategie von Soziopathen.

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„Möchten Sie, dass ich Ihnen auch ein Autogramm gebe?"

„Nein, ich möchte wissen, warum Sie all diese Leute in Thailand umgebracht haben."

Statt des erschütternden Effekts, auf den ich gehofft hatte, lächelte Sobhraj in sich hinein und fing an mit seinem Hemd seine Brille zu putzen.

„Ich habe nie jemanden umgebracht."

„Und was ist mit Stephanie Parry? Vitali Hakim? Diese jungen Leute in Nepal?" Sobhraj und Chowdhury hatten während eines Weihnachtsausflugs, mit Leclerc im Schlepptau, die Zeit gefunden, in Katmandu zwei Rucksacktouristen zu verbrennen.

„Nun sprechen Sie über Drogenabhängige."

„Sie haben Sie nicht umgebracht?"

„Sie sind vielleicht …" Er suchte nach dem richtigen Wort. „Äh … von einem Syndikat liquidiert worden, weil sie mit Heroin gedealt haben."

„Sind Sie dieses Syndikat?"

„Ich bin eine Person. Ein Syndikat besteht aus vielen Personen."

„Aber Sie haben ja Richard Neville erzählt, dass sie diese Menschen ermordet haben. Ich will Sie nicht beleidigen, aber ich wüsste einfach gern, warum Sie sie umgebracht haben."

„Ich habe es Ihnen doch schon gesagt." Ich hatte das Gefühl, dass mir die Zeit davonlief. Es kam mir nicht angeraten vor, diese Person noch einmal zu treffen, und sobald er seinen finsteren Deal mit dem Mercedes abgeschlossen hatte, würden sie ihn wieder zurück ins Tihar-Gefängnis bringen.

„Nun, ich kann Ihnen von einem erzählen", sagte er, nachdem er kurz nachgedacht hatte. Er beugte sich vertraulich zu mir herüber. Einer der Wärter hustete, um uns an seine Anwesenheit zu erinnern. „Das Mädchen aus Kalifornien. Sie war betrunken und Ajay brachte sie mit ins Kanit House. Wir wussten über sie Bescheid, wissen Sie. Wir wussten, dass sie mit Heroin zu tun hatte." Er erzählte mir dann, wie sie Teresa Knowlton ermordet hatten, eine junge Frau, die definitiv nichts mit Heroin zu schaffen gehabt hatte und plante eine buddhistische Nonne zu werden—so ziemlich im gleichen Wortlaut, wie er die Geschichte vor einem Vierteljahrhundert schon Richard Neville erzählt hatte. Ihre Leiche war die erste, die gefunden worden war, nur mit einem Bikini bekleidet unweit Pattayas im Meer treibend. Daher auch der Name Bikini-Killer.

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Als er diese lange und hässliche Geschichte zu Ende erzählt hatte, sagte ich: „Mich interessiert nicht so sehr, wie Sie sie umbracht haben, sondern warum."

Ein Wärter bedeutete Sobhraj, dass er nun in das Büro gehen konnte. Er stand mit einem lauten Klirren seiner Ketten auf. Er schlurfte ein paar Schritte vor und schaute dann über seine Schulter.

„Es ist ein Geheimnis", sagte er mit todernstem Gesicht.

Dann verschwand er und winkte mit den Fahrzeugpapieren des Mercedes. Ein Iago durch und durch.

Ich habe immer gedacht, dass Sobhraj und Chowdhury eine Menge Speed konsumiert haben mussten. Ich habe oft spekuliert, dass die Bikini-Morde eine Art finsteres homoerotisches Todesritual waren, das durch eine Amphetamin-Psychose ausgelöst worden war.

Ich traf mich mit Madhukar Zende, einem ungewöhnlich soliden Polizeichef, der mir stapelweise handschriftliche eidesstattliche Aussagen von Sobhrajs Konsorten vorlegte, mit Bleistift oder Kugelschreiber auf das Papier gekritzelte Geständnisse zahlloser Diebstähle in Peschawar, Karatschi und Kaschmir, die in einer rasanten und schwer fasslichen Abfolge unterschiedlicher Orte begangen worden waren.

Zende hatte Sobhraj zweimal verhaftet: einmal an Zendes 42. Geburtstag nach einem Juwelenraub im Ashoka Hotel in Neu-Delhi und ein zweites Mal 1986 nach dem Ausbruch aus dem Tihar-Gefängnis.

Er sprach mit ironischer Zuneigung von Sobhraj und strich sich mit dem Daumen über seinen D'Artagnan-Schnurbart, während er sich an die frühen 1970er erinnerte, in denen Sobhraj eine Wohnung auf dem Malabar Hill unterhielt und sich in Bollywood beliebt machte, indem er gestohlene Pontiacs und Alfa Romeos zu unfassbar niedrigen Preisen anbot. Für ausgefeiltere Nummern heuerte er—um nicht aus der Übung zu kommen—in den Saftbars und Billighotels der Ormiston Road Strohmänner an, die für ihn die reichen Touristen im Taj oder im Oberoi in der Nähe des India Gate betäubten und ausraubten.

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„Er war an Frauen und Geld interessiert", seufzte Zende. „Er hinterließ, wo immer er war, eine Spur gebrochener Herzen." 1971 wartete Sobhraj im O'Coqueiro Restaurant in Goa auf einen internationalen Anruf, als Zende, der sich als Tourist verkleidet hatte, ihn schnappte.

Ich saß in der Nähe der Stelle, wo Sobhraj verhaftet worden war, und auf der schattigen Veranda füllte mich Gines Viegas, der Besitzer des Ladens, mit Rum-Colas ab, während er mir mit schleppender Stimme Geschichten aus seinen Jahren als Reisevermittler in Afrika und Südamerika erzählte.

„Er rief seine Mutter in Frankreich an", erzählte mir Viegas. Er sah jedes Mal anders aus, er trug Perücken und schminkte sich das Gesicht. Er machte seine Nase mit Knetmasse größer. Als Zende hier war und seine berühmte Observierung durchzog, trug er Bermudashorts und ein Touristenhemd. Ich wusste sofort, dass er ein Bulle war."

Madhukar Zende ist inzwischen tot. Gines Viegas auch. Charles Sobhraj lebt immer noch.

Die neuen Besitzer des O'Coqueiro haben an dem Tisch, wo er am Abend seiner Verhaftung sein Dinner aß, eine Statue von Sobhraj aufgestellt. Kiran Bedi hat ihren Job inzwischen auch verloren—ein Opfer ihrer eigenen Selbstüberschätzung, und, wie sollte es anders sein, Sobhrajs. Sie glaubte so fest an seine Resozialisierung, dass sie einem französischen Filmteam erlaubte, in das Gefängnis zu kommen und sie zu dokumentieren—was ihren Vorgesetzten den gewünschten Vorwand lieferte, sie zu entlassen.

Ich weiß nicht, warum es zu den Bikini-Morden kam. Die Morde stellen in Sobhrajs schier endloser abwechslungs­reicher krimineller Laufbahn nur ein kurzes Kapitel dar, eine kurze Explosion einer „Überreizung", eines ansonsten aalglatten, durch nichts aus der Ruhe zu bringenden Betrugskünstlers, der sich ob seiner besonderen Selbstkontrolle rühmte.

Die Morde begannen, als Chowdhury die Bühne betrat, und endeten, als er wieder verschwand.

Sehr zum Missfallen vieler, die das zu verhindern versucht hatten, kam Sobhraj im Jahr nach unserem Treffen auf freien Fuß. Als französischer Staatsbürger und verurteilter Straftäter wurde er schnellstens aus Indien herausbefördert. Er ließ sich in Paris nieder, wo man ihm angeblich 5 Millionen Dollar für seine Lebensgeschichte zahlte, und begann, für 6.000 Dollar pro Treffen, Interviews in seinem Lieblingscafé am Champs-Élysée zu geben.

Aber das ist noch nicht ganz das Ende der Geschichte. 2003 tauchte er plötzlich in Nepal auf—dem einzigen Land der Welt, wo er noch polizeilich gesucht wurde. (In Thailand gibt es selbst auf schwere Straftaten, einschließlich Mordes, eine Verjährungsfrist.) Er glaubte—so wird behauptet—dass die Beweise gegen ihn längst zu Staub verfallen waren. Ich bin mir nicht so sicher, dass es so war. Er fuhr, wie schon in Goa, auf einem Motorrad durch Katmandu und zog so absichtlich Aufmerksamkeit auf sich.

Die Nepalesen hatten die datierten Quittungen für einen Mietwagen und das im Kofferraum gefundene Blut sorgfältig aufbewahrt und nahmen ihn schließlich passenderweise in einem Casino fest. Ich habe gerade ein Youtube-Video gesehen, das zeigt, wie Sobhraj in Kathmandu sein letztes Berufungsverfahren in dem Mordprozess verliert.

Was es zeigt, ist die Müßigkeit aller Dinge im Angesicht des Alterns. Sobhraj ist alt geworden. Wenn er sich inzwischen nicht selbst langweilig findet, muss er extrem dumm geworden sein. Wenn man seine Geschichte über einen so langen Zeitraum verfolgt hat wie ich—die endlose Abfolge von Missetaten und Chaos, die doch nur wieder dorthin führten, wo sie begonnen haben, in eine Gefängniszelle; das Geld, das er stahl und sofort wieder verspielte; die sinnlose permanente Bewegung durch Länder und Kontinente—dann sieht man, dass Sobhraj schon immer eine traurige Gestalt war.

Mein erster Eindruck von ihm, als ich ihn das erste Mal von Angesicht zu Angesicht sah, war der seiner aggressiven, unerbittlichen Lächerlichkeit.

Die Geschichte zog mich vor vielen Jahren ganz ohne Zweifel deshalb an, weil ich mich fragte, ob ich, an ihrer Stelle, mich ebenfalls von Sobhraj in den Tod hätte locken lassen: In den Fotos aus der Zeit sieht er wie jemand aus, mit dem ich in den 70ern geschlafen hätte—genaugenommen sah er wie eine ganze Reihe von Leuten aus, mit denen ich in den 70ern geschlafen habe. Es war nicht möglich, die Frage durch ein Treffen mit ihm zu beantworten. Er sah nicht mehr aus wie jemand, mit dem ich je schlafen würde, und ich wusste ja schon, was er getan hatte. Ein Krimineller wie Sobhraj könnte heute nicht mehr existieren; ein Mensch kann nicht mehr einfach in Flugzeuge hüpfen und Grenzen mit kaum mehr als ein paar cleveren Sprüchen, einem sexy Lächeln und schlecht gefälschten Pässen überqueren.

Aber vielleicht habe ich mir das Ganze auch von Anfang an falsch vorgestellt. Ich dachte jahrelang, dass Sobhraj gutgläubige und nicht besonders helle Kiffer durch seinen sexuellen Charme und seine Cleverness in sein Todesnetz lockte. Aber was, wenn die Leute, die er später ermordete, ihm seine Vorstellung auch nicht mehr abnahmen als ich, egal wie attraktiv er damals war, und sogar ohne irgendetwas über ihn zu wissen? Was, wenn sie, statt eines Abbilds der Perfektion, einen schleimigen Loser in ihm sahen, der, obwohl ganz offensichtlich Asiate, absurderweise so tat, als wäre er Franzose oder Holländer, oder irgendwie europäisch, „wie sie"? Was, wenn sie ihn auf irgendeine Weise peinlich fanden, sich aber irgendeinen Vorteil von seiner Bekanntschaft versprachen? Die meisten waren ja nicht seinem Sexappeal oder seinem schmierigen Geschwätz auf den Leim gegangen, sondern hatten sich erhofft, billig an Edelsteine zu kommen. Es ist vorstellbar, dass seine Opfer dachten, dass sie es wären, die ihn ausnutzten und ihn genau so lächerlich fanden wie ich. Und vielleicht dachten sie—in ihrem herablassenden, aufgeklärten, liberalen Großmut—dass ein lächerlicher Mensch auch ein harmloser Mensch sein musste.