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Warum simuliert Russland Atomangriffe auf Schweden?

Wir haben uns mit einem Sicherheitsexperten aus Stockholm unterhalten, um herauszufinden, ob wir auf einen neuen Kalten Krieg zusteuern. 

Ein russischer Kampfjet vom Typ SU-27 nähert sich einem schwedischen Signalaufklärungsflugzeug. Foto: FRA

Russland scheint ziemlich sauer auf die anderen an der Ostsee gelegenen Staaten zu sein—vor allem auf Schweden. Am 2. Oktober veröffentlichte Schwedens Behörde zur Signalaufklärung [FRA] das Foto eines russischen Kampfflugzeuges, das in einem Abstand von nur ungefähr zehn Metern neben einem Aufklärungsflugzeug des schwedischen Militärs herfliegt.

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Dazu kommt, dass russische Kriegsschiffe in der Ostsee schon zweimal finnische Forschungsschiffe konfrontiert haben, nämlich am 2. August und am 2. September. An Bord befanden sich schwedische Wissenschaftler. Um das Ganze abzurunden, folgten am 7. Oktober bewaffnete NATO-Kampfjets russischen Kampfflugzeugen über der schwedischen Insel Öland in Richtung Ostsee. Die lettische Armee postete auf Twitter, dass NATO-Jets zwei russischen Militärflugzeugen in höchster Alarmbereitschaft über der Ostsee nachgeflogen waren.

Eine Regierungsquelle aus einem der baltischen Staaten erzählte der schwedischen Zeitung Svenska Dagbladet, dass „die Handlungen der Russen manchmal aggressiv sind und das Verhalten gegenüber den Signalaufklärungsflugzeugen sehr nervenaufreibend ist. Man fühlt sich wie im Kalten Krieg.“ Als die russischen Kampfjets in den schwedischen Luftraum eindrangen, schrieb Schwedens ehemaliger Außenminister Carl Bildt in seinem Blog, dass das die „schwerste Luftraumverletzung Russlands“ gewesen sei, die er in seiner achtjährigen Amtszeit gesehen hat.

Die Verletzung des Luftraums über der Ostsee ist aber nicht das einzige komische Verhalten, das Russland in der Vergangenheit an den Tag gelegt hat. Letztes Jahr hat das Land sogar einen Atomangriff auf Schweden simuliert. So etwas klingt eher wie die Handlung eines dystopischen Kriegsfilms. Russische Kampfjets zeigten ihre Bewaffnung, indem sie bei der Annäherung an schwedische Flugzeuge ihre Unterseite freilegten.

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Diese aktuellen Zwischenfälle erinnern auf eine unheimliche Art und Weise an den Kalten Krieg. Stehen wir vielleicht bald vor einer zweiten Version? Falls dem so sein sollte, was bedeutet das dann für ein Land wie Schweden? Verwirrt und besorgt rief ich Tomas Ries an, einen Dozenten der Fakultät für Sicherheit, Taktik und Führungsverhalten an der schwedischen Akademie für Verteidigung in Stockholm. Ich wollte wissen, was hier eigentlich abgeht.

Tomas Ries. Foto: Rickard Kilström

VICE: Warum legt das russische Militär in der Ostsee ein so aggressives Verhalten an den Tag?
Tomas Ries: Dafür gibt es verschieden Interpretationen. Man muss auf jeden Fall bedenken, dass Russland einen Zehnjahresplan zum Ausbau seiner Streitkräfte ausgearbeitet hat. Das militärische Budget wird also extrem vergrößert. Das bedeutet, dass sich in der Ostsee und im umliegenden Gebiet mehr russisches Militär als je zuvor befindet.

Der Hauptgrund ist jedoch, dass Russland dem Rest der Welt etwas mitteilen will: Das „alte“ Europa existiert nicht mehr. Damit meine ich das Europa, in dem die NATO und die EU alles bestimmen—zum Beispiel will die EU Russland in Dingen wie Demokratie und Menschenrechte belehren. Damit ist Russland nicht mehr einverstanden. Putin will mit Nachdruck zeigen, dass diese Ära vorbei ist und es wichtig ist, Russland nicht zu unterschätzen. Das müssen wir—also der Rest der Welt—respektieren. Meiner Meinung nach ist das die grundlegende Erklärung für Russlands Verhalten in der Ostsee.

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Wenn man sich aber jeden Zwischenfall einzeln ansieht, dann wird klar, dass es Putin gar nicht gefällt, wenn Finnland und Schweden mit der NATO zusammenarbeiten. Russland deutet so an, dass es für dich gefährlich werden kann, wenn du bei militärischen Übungen die NATO mit einbeziehst. Die Simulation des Atomangriffs auf Schweden geschah ja zum Beispiel zur gleichen Zeit wie Schwedens NATO-Operationen.

Es ist jedoch auch möglich, dass Russlands Verhalten ein Test ist. Sie wollen herausfinden, wie kampfbereit das schwedische Militär ist. Dazu wenden sie die klassischen Taktiken an, die es auch schon im Kalten Krieg gab. Damals flogen sie ganz dicht an oder genau über der Grenze, um zu sehen, welches Überwachungssystem Schweden einsetzt und wie schnell das Militär reagiert.

Kann Russlands Verhalten als Vorbereitung auf einen neuen Kalten Krieg interpretiert werden?
Ich finde es problematisch, solche Analogien zu verwenden. Die Lage heute ist eine andere. Eine Sache ist allerdings gleich geblieben: Russland verfolgt seine Sicherheitsagenda für Europa als unabhängiger Akteur, dessen Interessen sich oftmals von den Interessen aller anderen unterscheiden—so wie im Fall des Kriegs in der Ukraine. Wir kehren zurück zu einem Zustand, in dem es wachsende Spannungen zwischen Russland und dem Rest Europas gibt und in dem Russland sein militärisches Potenzial zunehmend nutzen wird.

Was bedeutet es, wenn Russland in den schwedischen Luftraum eindringt? Was kann Schweden dagegen ausrichten?
Das ist eine ernstzunehmende Angelegenheit. Es bedeutet ja, dass Russland Schwedens territoriale Integrität verletzt. Schwedens Antwort darauf ist, seine Verteidigungsfähigkeit zu demonstrieren, indem es Kampfflugzeuge ausschickt und Russland so in seine Schranken weist. Danach wird Schweden Russlands Verhalten auf diplomatischem Wege verurteilen.

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Welche Konsequenzen hat es, einen Angriff mit Nuklearwaffen auf ein anderes Land zu simulieren?
In den Luftraum eines anderen Staates einzudringen, ist die eine Sache. Einen Nuklearangriff zu simulieren, selbst wenn man nicht in den Luftraum eindringt, ist eine ganz andere. Es ist feindselig und schwerwiegend. Ereignisse wie diese machen mir die größte Angst, wenn ich an die Situation in der Ostsee denke.

Wie ist das Verhältnis von Schweden und Russland?
Wenn wir uns die Zeit des Kalten Kriegs anschauen, dann sehen wir, dass Schweden schon immer ein Partner der Nato war, auch wenn sie diese Zusammenarbeit nicht an die große Glocke gehängt haben. Wenn ein Krieg ausbrechen würde, stünde Schweden eindeutig auf der Seite der Nato. In den Augen Russlands kann man Schweden nicht trauen, weil es auf der Seite des größten Feindes stünde, wenn es zum Ausbruch eines Krieges käme. So sieht Russland Schweden aktuell.

Man muss auch bedenken, dass Carl Bildt, unser ehemaliger Außenminister, eine aggressive Außenpolitik Russland gegenüber betrieben hat. Er hat Russland bei zahlreichen Gelegenheiten offen kritisiert. Das hat natürlich Russlands Einstellung Schweden gegenüber beeinflusst.

Was können wir tun, damit Russland seine Umtriebe in der Ostsee einstellt?
Sie sind Teil des neuen russischen Verhaltensmusters. Ich denke nicht, dass wir Russland davon abbringen können. Entscheidend sind aber nicht diese einzelnen Vorfälle, sondern die langfristige militärische Machtverschiebung in Europa.

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Wie wird sich diese Machtverschiebung gestalten?
Wir können mit Sicherheit sagen, dass Russland 2011 mit einer massiven Wiederaufrüstung begonnen hat. Innerhalb der kommenden zehn Jahre wird Russland erheblich an militärischer Stärke gewinnen. Das bedeutet, dass wir wieder eine Großmacht an unserer Grenze haben werden. Russland versucht, neue Gegebenheiten in Europa zu schaffen, damit die anderen Staaten wieder Ehrfurcht vor Russland zeigen. Wahrscheinlich wird Russland militärisch in Gebieten vorgehen, die es für wichtig hält.

Schweden ist allein so gut wie nicht verteidigungsfähig. Das macht es Russland natürlich viel leichter Druck auszuüben.

Was würde passieren, wenn Russland seine Drohungen wahrmacht? Angesichts der Tatsache, dass Schweden so gut wie keine Streitkräfte mehr hat?
Darüber möchte ich gar nicht spekulieren. Ich möchte aber betonen, dass Schweden nicht so wehrlos ist, wie man denken mag—schließlich haben wir Finnland, die baltischen Staaten und die Ostsee zwischen Russland und uns. Allerdings wäre Gotland gefährdet. Ein Angriff ist aber sehr unwahrscheinlich. Nicht auszuschließen ist jedoch ein Angriff auf eines der baltischen Länder. Das könnte zu einer Krise in Skandinavien führen, in die auch Schweden hineingezogen würde.

Wie würde sich Schweden normalerweise in einer derartigen Situation verhalten?
Mit so etwas hatten wir es noch nie zu tun. Ich glaube, das Schlimmste ist, dass sich niemand vorstellen kann, dass tatsächlich ein Krieg ausbrechen könnte. Die Situation ist absolutes Neuland für Schweden. Erst vor wenigen Monaten sind die schwedischen Politiker angesichts des Ukraine-Kriegs aufgewacht. Erst da haben sie das Problem auf die Tagesordnung gebracht und die Frage gestellt, was mit Schwedens Nachbarstaaten geschehen würde. Die neue Generation der Politiker in Schweden hat keinerlei Erfahrung mit dem Thema Machtpolitik.

Was würde passieren, wenn Russland Schweden tatsächlich mit Nuklearwaffen angreifen würde?
Das kann ich nicht sagen. Eine Sache ist aber sicher: Solange man kaum Streitkräfte hat, ist man angreifbar. Wenn Russland uns tatsächlich angreifen wollte, wären wir in großer Gefahr.